Im Modellprojekt „elektronische Visite“ kommunizieren seit Mai 2016 neun Pflegeheime und elf Arztpraxen mit der gleichnamigen Videosprechstunde. Im Februar 2018 wurde die eintausendste Sprechstunde durchgeführt und in einer begleitenden Evaluation die Effektivität des Projekts bescheinigt. Schon Mitte letzten Jahres, als elVi® vom Deutschen Ärzteblatt mit dem Praxis-Preis des ausgezeichnet und vom TÜV zertifiziert wurde, durfte ich  Business Developer Jan Beckmann über die zukünftigen Herausforderungen der medizinischen Versorgung in Deutschland befragen und wie ein Digitalprojekt hilft, diese zu meistern. 

Herr Beckmann, was ist die elektronische Visite und warum brauchen wir sie?

Der demographische Wandel wird die medizinische Versorgung der Bevölkerung vor eine große Herausforderung stellen. Denn nicht nur das Durchschnittsalter der Menschen und damit der Bedarf an Medizin steigen, gleichzeitig entsteht auch ein Mangel an Ärzten und Pflegekräften, der schon jetzt zu spüren ist – besonders im ländlichen Raum. Mit Hilfe der elektronischen Visite, einem telemedizinischen Videokommunikationssystem, an das auch Messgeräte angeschlossen werden können, können Ärzte ihre Patienten medizinisch betreuen, ohne dass diese in die Praxis kommen müssen.

Wo liegt der Vorteil für den Patienten und wie profitieren Ärzte von der digitalen Sprechstunde? 

Patienten brauchen nicht mehr in jedem Fall die unter Umständen lange Fahrt zum Arzt auf sich nehmen. Chronisch kranke Menschen z.B., bei denen die Diagnose klar ist und deren Krankheitsverlauf nur überwacht werden soll, können sehr gut via Video-Visite behandelt werden. Dabei kann elVi, z.B. über ein mobiles EKG, auch Vitalparameter messen, die der Arzt in Echtzeit sehen und auswerten kann. Der Arzt wiederum profitiert, weil er über die Videosprechstunde die Praxis entlastet: Es gibt keine Vor- und Nachbereitungszeiten und er kann – wenn er das will – Patienten auch von zuhause oder unterwegs betreuen. Zudem entfallen Anreisekosten und –zeiten. Das ist nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass Hausärzte im Notdienst teilweise für Gebiete von 80 x 80km verantwortlich sind.  Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Arzt den Patienten immer kennt. Es geht also nicht um anonyme Sprechstunden.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, bei dem der Nutzen der digitalen Sprechstunde deutlich wird?

Bei dem Bewohner eines Pflegeheims wurde bei einem früheren Arztbesuch Herzinsuffizienz festgestellt. Zur Beobachtung des Gesundheitszustandes setzt der zuständige Arzt elVi ein. Er vereinbart mit der Pflegekraft einen Kontrolltermin und wenn gewünscht, kann auch gleich ein Angehöriger an dem Videotermin teilnehmen. Über das mobile EKG, das sehr leicht zu bedienen ist, kann der Patient oder die Pflegekraft die Herztöne messen, die der Arzt sofort über ElVi einsehen kann.  Im Gespräch mit den Teilnehmern der Videokonferenz erhält der Arzt ein umfassendes Bild des Gesundheitszustandes.

Das E-Health-Gesetz ermöglicht ab dem 01. Juli 2017 die reguläre Abrechnung von Online-Videosprechstunden über die Krankenkassen. Was glauben Sie, wie wird sich das auf den Bereich der Telemedizin auswirken?

Die Einbindung in die Regelversorgung ist eine große Chance. Immer mehr Ärzte werden dann von Online-Sprechstunden Gebrauch machen. Wir erwarten für das Jahr 2017 ein starkes Wachstum in der Verbreitung von telemedizinischen Dienstleistungen.

Das Honorar ist aber gedeckelt. Glauben Sie, dass sich das trotzdem durchsetzen wird?

Unser System ElVi wird in Deutschland bereits von einigen Hundert Ärzten getestet, zum Teil über geförderte Projekte, zum Teil aber auch, weil die Ärzte einfach den hohen Nutzen für sich  erkannt haben. Vor allem bei den jungen, online-affinen Ärzten ist das Interesse sehr groß und auch die Rückmeldungen sind sehr positiv. Wir glauben fest daran, dass die Video-Sprechstunde sich durchsetzten wird, weil sie wirklich Sinn macht – auch wenn die Krankenkassen den abrechnungsfähigen Honorarsatz recht niedrig ansetzen.

In anderen europäischen Ländern ist man in der Telemedizin schon sehr viel weiter. Wieso ist man in Deutschland so restriktiv?

In der Schweiz z.B. wird Telemedizin heute schon oft genutzt. Das lässt sich auf geographisch erklären. In Deutschland ist der Datenschutz immer eine Herausforderung für medizinische IT-Dienstleistungen. Die Anforderungen sind wirklich hoch. Aber alle Systeme, die heute am Markt sind, genügen natürlich diesen Anforderungen.

Können Sie genauer erklären, warum wir uns bei der Nutzung von elVi keine Sorgen um unsere Datensicherheit machen brauchen?

elVi ist eine sogenannte Peer-to-Peer-Lösung. Der Computer des Arztes kommuniziert direkt mit dem des Patienten und es findet keinerlei Zwischenspeicherung auf irgendeinem externen Server statt. Das ist bei Skype z.B. ganz anders und unterscheidet telemedizinische Videokonferenzen grundlegend von Skype – auch wenn die Anwendung selbst durchaus Ähnlichkeit mit dem bekannten skypen hat. Selbstverständlich ist die Direktverbindung auch verschlüsselt und es findet eine Zugangskontrolle über ein Kennwort statt.

Der Markt für Gesundheitswesen boomt. Täglich schießen neue Start-Ups aus dem Boden. Wie schätzen Sie den Markt ein?

In Deutschland gibt es 135.000 niedergelassene Ärzte. Dieses Klientel ist sehr treues und nicht besonders preissensitiv. Wenn man ihnen eine Lösung an die Hand gibt, die ihnen wirklich die Arbeit erleichtert und einen guten Service bietet, hat man gute Chancen, den Arzt als überaus treuen Kunden zu gewinnen. Natürlich wissen das auch andere Anbieter. Sowohl die Nachfrage nach als auch das Angebot von telemedizinischen Dienstleistungen wird steigen.

Was ist ihr USP gegenüber den anderen Wettbewerbern wie zum Beispiel TeleClinic oder Patientus?

Zum einen ist das unsere Technologie. elVi bietet z.B. Konferenzschaltungen mit fünf Teilnehmern oder mehr. Außerdem entwickeln wir Zusatzgeräte wie z.B. das mobile EKG, mit denen der Einsatz von elVi zusehends erweitert werden wird. Ein weiterer großer Pluspunkt ist unsere hervorragende Vernetzung in der Ärzteschaft und in verschiedenen politischen Gremien. Das ist auch der Grund, warum elVi im Gegensatz zu Konkurrenzprodukten schon heute von hunderten von Ärzten genutzt wird. Die daraus resultierende Erfahrung verschafft uns wiederum einen großen Vorsprung gegenüber anderen Anbietern.

Wie viel kostet elVi?

elVi kostet 59,- Euro pro Monat und wird als Lizenzmodell vertrieben.

Das Ärztebewertungsportal Jameda wurde 2015 vom Burda-Verlag übernommen und hat jetzt hat sich 2017 in die Telemedizin eingekauft und das Berliner Start-up Patientus erworben. Wie wirkt sich das auf Ihre Wettbewerbssituation aus?

Ehrlichgesagt sind wir sehr skeptisch ob die Kombination mit dem Bewertungsportal für Patientus wirklich vorteilhaft ist. Die Vorbehalte aus der Ärzteschaft jedenfalls sind diesbezüglich sehr groß.

Ihre Software hat beim diesjährigen Praxis-Preis des Deutschen Ärzteblatts den 1. Preis gewonnen. Glückwunsch! Wie wichtig sind solche Preise für elVi?

Sehr wichtig – und zum Glück haben wir auch bereits einige gewonnen. Erst Anfang des Jahres z.B. den „Erfolgs-Rezept Praxis-Preis“ der Verlagsgruppe Springer Medizin. Besonders gefreut hat uns hier, dass der Sieger über ein Online-Voting unter Ärzten sowie durch eine Fachjury  ermittelt wurde.  Als Start-up ist diese Aufmerksamkeit natürlich immens wichtig und gibt uns Motivation und Bestätigung, auf dem richtigen Kurs zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch und in die Einblicke in die Digitalisierung im Gesundheitswesen!