Wolf Lotter

Publizist Wolf Lotter:
„Komplexität erschließen, um Vielfalt zu gewinnen.“

Was wird uns helfen, die Corona-Krise zu überwinden? Die Komplexität unserer Welt, die uns die Krise vor Augen führt, scheint unüberwindlich. Ich habe mit Journalist Wolf Lotter, dem Mitgründer der Zeitschrift „brand eins“ und Buchautor, über Wissensökonomie, Technologien und Innovationen gesprochen. Seine Botschaft: Wir müssen lernen, uns aus den vorgegebenen Strukturen zu befreien. Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass es in Zukunft nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. Ein sehr inspirierendes Gespräch über Krisenbewältigung in der heutigen Wissensgesellschaft.

Herr Lotter, Sie bezeichnen sich selbst auf ihrem Twitterprofil als Zivilkapitalist. Was genau verstehen Sie darunter?

Einen Zivilkapitalist nenne ich eine Person, die die Mittel der Marktwirtschaft nutzt, um selbstbestimmter und emanzipierter, freier leben zu können. Also nicht als abhängig Beschäftigter, wie die meisten es im Angestelltenverhältnis tun. Man kann beobachten, dass unsere Gesellschaft zunehmend eine bequeme Haltung eingenommen hat. Zuerst verlässt man sich auf seine Eltern, später auf den Chef oder das Management. Das hat nichts mehr damit zu tun, sich gesellschaftlich zu emanzipieren oder beruflich etwas voranzubringen.

 

„Wenn ich innovativ sein will, muss ich mit Widerstand rechnen.“

 

Bedeutet das Ihrer Meinung nach, dass wir in Deutschland in einer Kultur der Abhängigkeit leben und arbeiten?

Wir haben eine Kultur, in der es einfacher ist, sich bedienen zu lassen als sich durchzusetzen. Diese Nicht-Widerständigkeit wird legitimiert, indem man es Leuten leicht macht, sich nicht verändern zu wollen und andere auszunutzen. Man kann nicht über Veränderungen zum Besseren, z.B. bessere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen reden, wenn man nicht auch über die Machtfrage redet. Und dazu gehört immer das Selbstbewusstsein, dass man weiß, was man kann und was man tut. Nur dann funktioniert es.

Bieten die unternehmerischen Organisationsstrukturen überhaupt die Möglichkeiten, sich als Zivilkapitalist zu emanzipieren?

Der Berater Jürgen Fuchs hat einmal die Arbeitswelt mit einem Satz beschrieben: Angestellte sind Menschen, die morgens um neun Uhr angestellt und abends um fünf Uhr wieder ausgestellt werden. Wir denken in Arbeits- und Organisationsformen, die von gestern sind. Wir leben zwar in einer Netzwerkgesellschaft, wir reden gerne von Agilität, wir reden gerne von New Work, aber wir machen das alles nicht.

 

„Ändert etwas und haltet etwas aus, das ist die kulturelle Voraussetzung für Innovation.“

 

Durch die Corona-Krise wurden von heute auf morgen viele Arbeitnehmer zu Homeoffice verbannt. Glauben Sie, dass das der Beginn einer nachhaltigen Entwicklung zu neuen Arbeitsformen ist?

Solange wir immer noch nicht akzeptiert haben, dass es dort Arbeit gibt, wo der Kopf ist, sicher nicht. Der Vordenker der Wissensökonomie, Peter Drucker, hat es einmal gesagt: Das Kapital des Wissensarbeiters befindet sich im Kopf, dort findet die Produktion und die Wertschöpfung statt. Nicht in einem Büro, nicht in einer Organisation, nicht an einem Schreibtisch. Aber in der heutigen Arbeitswelt fahren wir alle zu einem bestimmten Ort, um zu arbeiten und damit befinden wir uns eigentlich noch immer in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Ist die Krise vielleicht die große Chance, das zu verändern?

Ich bin pessimistisch, dass die Krise zu radikalen Veränderungen beitragen wird. Die Krise hat in unserer Arbeitswelt zu einer Reaktion geführt und nicht zu einem Fortschritt, weil die Unsicherheit noch verschärft worden ist und die Leute sich noch mehr darauf verlassen, was der Chef in der Organisation sagt. Verschlimmert wird das dadurch, dass die Menschen nun zwangsweise die Erfahrung mit Homeoffice und Remote Work in negativem Kontext erleben, nämlich in häuslicher Isolation und im Krisenmodus.

Sie glauben also, dass die Krise einen negativen Effekt auf die Digitalisierung der Arbeitswelt hat?

Die am besten ausgebildeten Generationen, die je in Europa am Arbeitsmarkt waren, Leute, die fast alle studiert haben, sind nicht in der Lage, sich selbst als jemanden begreifen, der für sich selbständig zuhause arbeiten kann. Man muss kritisch reflektieren, was das bedeutet: Wenn die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen werden, ist das in eine Drohung. Und zwar aus dem Grund, dass die meisten das nicht ertragen können und darin liegt das Problem.

 

„Wenn wir damit anfangen würden, uns selbst zu akzeptieren, uns selbst wertzuschätzen, dann können wir auch eine bessere Gemeinschaft sein.“

 

Sie schreiben aktuell ein Buch über „Zusammenhänge“, das im Herbst veröffentlicht werden soll. Welche Thesen stellen sie darin auf?

Es ist die Fortführung der Thesen, die Peter Drucker aufgestellt hat. In unserem Jahrhundert wird Wissen immer individueller und feingliedriger. Das ist ein Produkt der Arbeitsteiligkeit und führt dazu, dass wir immer mehr Spezialisten haben, die sich untereinander verstehen, aber kein anderer versteht sie mehr. Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, Zusammenhänge herzustellen. Menschen, die mehr Freiräume wollen, müssen lernen, ihr Wissen zu teilen.

„Wissen teilen“, das propagiert zurzeit jedes Managementseminar ….

Die Frage ist doch, ob das nur eine Phrase ist oder ob man wirklich in der Lage ist, das Wissen zu teilen. Wissen teilen ist im Grunde erst dann möglich, wenn man sich richtig ausdrücken kann. Wir werden erst zur Wissensgesellschaft, wenn wir Dinge verstehen und auch erklären können. Und davon sind wir weiter entfernt als je zuvor.

Wie meinen Sie das bzw. können sie das anhand eines Beispiels erläutern?

Die Informationstechnologie als Beispiel: Das ist eine einzige Blackbox, verschlossene Systeme, die keiner begreift. Die nachfolgende Generation, die sogenannten „Digital Natives“, sie können die Technologie konsumieren, sie verstehen aber nicht, was sich dahinter verbirgt, weil sie es nie gelernt haben. Ganz zu schweigen von dem kritischen Umgang mit Technologien. Die Digital Natives haben noch nicht einmal gelernt, zu entscheiden, wann sie ein- oder ausschalten sollen. Damit geht eine wichtige Kultureigenschaft verloren.

 

„Ich kenne viele Unternehmer aus der älteren Generation, die innovationsfreudiger sind als ein Rudel Studenten.“

 

Sie kritisieren also, dass wir Technologie nur konsumieren?

 Ich bin kein Gegner des Konsums und des Wachstums. Im Gegenteil, beides ist menschengerecht, um sich weiter zu entwickeln. Aber ich kritisiere – und das schon lange – dass sich die westliche Konsumgesellschaft zum Großteil nur noch in der Rolle des passiven Verbrauchers befindet, und die Betonung liegt auf NUR. Die Menschen begnügen sich damit, am Ende der Nahrungskette Dinge zu verbrauchen und halten sich dabei für revolutionär. Aber sie sind nie bereit, die Welt zu gestalten und sie verfügen nicht über die Sachkenntnis, Zusammenhänge herzustellen.

Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um Zusammenhänge herstellen zu können?

Man braucht zumindest Wissen über Ökonomie, über Technologie. Und man muss wissen, wie unternehmerische und gesellschaftliche Organisationen funktionieren. Und man braucht ein Bildungssystem, das uns etwas anderes lehrt, als sich einzufügen und unterzuordnen. Das wird schon seit Jahrzehnten gefordert. Ich versuche, in meinem Buch zu beschreiben, wie die Netzwerkökonomie funktioniert. Anders als in der Vergangenheit, als eine Regel, ein Standard, eine Norm für alle galt, betreiben wir heute Ökonomie von Fall zu Fall, von Bedarf zu Bedarf. Das heißt, wir müssen uns immer wieder auf neue Bedingungen einlassen, uns einer anderen Sprache bedienen, uns einen anderen Zugang verschaffen, in der Kommunikation emphatisch sein.

 

„Ein starkes Ich wohnt in einem starken Wir.“

 

Das klingt komplex!

Die Welt ist komplex. In der Vergangenheit hatten wir Menschen die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren. Sei es mit Erklärungsmodellen, mit Technologien, damit die Welt uns nicht zu kompliziert erscheint. In Zukunft wird es darum gehen, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die Komplexität erschließen. Und damit Vielfalt und Unterschiedlichkeit möglich machen.

Lässt sich die Komplexität unserer Welt und eine Krise, wie wir sie jetzt erleben, mit Vielfalt lösen?

Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass in der Wissensökonomie nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. In Zukunft wird es darauf ankommen, so miteinander zu kommunizieren, dass wir uns in der einen Sache einigen können. Das wird nicht einfach werden, denn wir haben lediglich gelernt, mitzumachen oder wegzugehen. Das wird gerade nach der Corona-Krise nicht mehr möglich sein. Wir müssen lernen, so miteinander zu kommunizieren, dass jeder den anderen versteht und zu akzeptieren, dass es auch andere Wahrheiten und andere Realitäten gibt, als die wir selbst antizipiert haben.

 

„Wir brauchen keine nützlichen Idioten, die dem System und der Bürokratie dienen, sondern Leute, die es unternehmerisch anpacken.“

 

Was ist Ihr Rat an die Unternehmen, vor allem an die Kleinunternehmer und Mittelständler, die von der Krise besonders stark betroffen sind?

Wenn uns die Krise etwas zeigt, dann dass wir uns nicht auf die Welt der Bürokraten und die Welt der Konzerne mit ihren Angestellten-Apparaten verlassen können. Mein Appell an die selbstbewussten Zivilgesellschafter: Emanzipiert euch! Schafft euch eigene Strukturen, organisiert euch selbst in Syndikaten oder genossenschaftsähnlichen Organisationen, macht euch gemeinsam stark und setzt eure Interessen durch. Das ist die Zukunft von Netzwerkökonomie.

"brand eins"-Mitgründer, Publizist und Buchautor Wolf Lotter (Jahrgang 1962), Fotocredit: Sarah Esther Paulus

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Herr Lotter!

 

Weiterführende Links

Über Wolf Lotter

Wolf Lotter in der „brand eins“ über Eigensinn, 2020

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Mann arbeitet im Homeoffice

Plötzlich Home-Office:
Was wir jetzt von Remote-Only Unternehmen lernen können

Allein gelassen im Home-Office? Viele Berufstätige sind durch die Corona-Krise nicht nur häuslich isoliert. Eine Pandemie, die die Gesellschaft und das Arbeitsleben massiv verändert. Meine Hypothese: Je länger die Corona-Krise dauert, desto mehr werden strukturelle Veränderungen in der Arbeitswelt eintreten. Man wird das Rad nicht einfach mehr zurückdrehen können. Es wird aber nur gelingen, wenn auch mit digitalen Technologien die soziale Vernetzung aufrecht erhalten bleibt. Das können wir jetzt von Remote-only Unternehmen lernen.

Die Corona-Pandemie lässt unsere Gesellschaft, die völlig auf Konsum ausgerichtet ist, gerade von 100 auf Null herunterfahren. Das Arbeitsleben verlagert sich in die eigenen vier Wände. Wo es möglich ist, schicken Unternehmen ihre Mitarbeiter ins Home-Office, um Infektionsketten zu unterbrechen. Jetzt, in der Krise, in dem das Gebot vorherrscht, sich in Selbstisolation zu begeben, wird plötzlich Home-Office zu einem Muss, um unternehmerisch das Nötigste am Laufen zu halten. Für viele Unternehmen ist das nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch ein soziale.

Berufstätige arbeiten im Krisenmodus und hohem Stresslevel zuhause

Die Berufstätigen, die nun ins Home-Office verbannt sind, sind nicht vorbereitet, das Umfeld ist nicht darauf ausgerichtet, auch die Räumlichkeiten nicht, von arbeitsrechtlichen Vorgaben seitens der Berufsgenossenschaft mal ganz abgesehen. Soziale Nöte werden in Kürze ans Tageslicht rücken.

Es sind zwei Personengruppen, die besonders betroffen sind: Zum einen die Mitarbeiter, die nun allein zuhause sind und arbeiten sollen. Sie sind isoliert, von der Außenwelt abgeschnitten. Sie müssen sich ab sofort selbst organisieren, was vorher der Büroalltag und die Strukturen des Unternehmens vorgegeben haben. Die zweite Gruppe sind die Familien mit ihren Kindern, die plötzlich Home-Office und Home-Schooling oder Kleinkind-Betreuung gleichzeitig unter einen Hut bekommen müssen. Es gibt keine Tagesabläufe, keine Strukturen, der Stresslevel steigt bei allen Beteiligten.

Ist sozialisiertes Arbeiten in den eigenen vier Wänden möglich?

Dies sind keine idealen Bedingungen für Unternehmen, um eine Krise zu bewältigen. Gerade in Krisenzeiten brauchen Unternehmen kreative Mitarbeiter und Leute, die vorwärts denken. Nichts ist mehr so wie es war. Viele stellt die Krise vor existenzielle Fragen: Wie kann mein Businessmodell in Zukunft aussehen? Das geht nur mit Teams, die ein positives Mindset haben. Isoliert im Home-Office ist das nur schwer möglich.

In diesem Kontext ist der soziale Austausch ein wichtiger Baustein. Unternehmen, die in der Krise auf remote umstellen, müssen sich in der Kürze der Zeit folgende Fragen stellen: Wie organisiert man sich? Wie werden Aufgaben delegiert, wie organisiert man die Teams? Welche Rolle übernehmen Führungskräfte? Wie motiviere ich die Mitarbeiter, wie kann ich dafür sorgen, dass sie sich nicht im Stich gelassen fühlen? Wie bekommen wir die Menschen, die im Büroalltag ihre sozialen Kontaktpunkte hatten, mit der digitalen Vernetzung sozialisiert?

Voraussetzung dafür ist es, von dem Mitarbeiterbild der „Human Ressource“, von dem Unternehmenskulturen und Personalmanager jahrzehntelang geprägt waren, abzurücken und auf den menschlichen, sozialen Charakter zu fokussieren.

Lernen von Remote-Only-Unternehmen

Nina Jonker-Völker, Head of Marketing beim Start-Up Frontastic arbeitet schon seit Jahren im remote-only Modus.

Es gibt einige wenige Unternehmen, deren Business-Modell und Arbeitsweise auf dem Remote-only-Modus basieren. Von denen gilt es, schnell zu lernen. Ich habe mit Nina Jonker-Völker gesprochen, sie ist Head of Marketing beim Start-Up Frontastic und verrät mir, welche Erfahrungen sie bisher mit New Work gemacht hat und was aus ihrer Sicht die Corona-Krise im Arbeitsleben der Zukunft verändern wird.

Nina, wie war die Umstellung auf Remote Work als du bei Frontastic eingestiegen bist?

Nina Jonker-Völker: Ich hatte zuvor bereits Teilerfahrung mit Remote Working, z.B. durch meine Arbeit im Außendienst, in internationalen Teams großer Konzerne, oder auch als Digital Nomad während meiner Weltreise. Mich allerdings in ein komplett digitales Team einzufügen, habe ich insbesondere in der Einarbeitung als Herausforderung empfunden. Ich musste mich zum Beispiel sehr daran gewöhnen, komplett in der Cloud zu arbeiten, alle normalen Office-Interaktionen bewusst zu virtualisieren, und nebenher mit einem ganz neuen Level an Transparenz zu arbeiten. Insgesamt habe ich etwa eine Woche gebraucht, um mich an den Remote-Native-Modus zu gewöhnen. Jetzt würde ich diese Flexibilität nicht mehr hergeben.

Wie tauschst du dich mit Kollegen aus, welche Rolle spielt die soziale Komponente?

Nina Jonker-Völker: Im "Normalen" tauschen wir uns asynchron über Slack aus. Wenn Themen, Diskussionen oder Herausforderungen über den Schriftweg nicht zu einer Lösung führen, wechseln wir in synchrone Kommunikation und nutzen Videokonferenzen. Wichtig ist dabei der Grundsatz "Video vor Audio". Wann immer es geht, sollte die Kamera an sein, denn Video transportiert so viel mehr Kommunikationsfacetten und führt dazu, dass wir uns auch in Distanz als Team verbunden fühlen. Du siehst, die soziale Komponente ist nicht zu unterschätzen! Ich würde sogar so weit gehen, dass der aktive Austausch mit Kollegen auf persönlicher, sozialer Ebene in Remote Native Firmen noch viel wichtiger ist als in Unternehmen mit physischen Büros. Soziale Kontakte sind letztlich doch das Schmiermittel, das Teams überdurchschnittlich erfolgreich macht.

Gibt es im Remote Modus so etwas wie Socialising? Wie sieht das aus? Gibt es z. B. gemeinsamen Mittagstisch über Videokonferenzen?

Nina Jonker-Völker: Ja, wir haben ganz bewusst Socialising-Momente in unseren Arbeitsalltag eingebaut. Dazu nutzen wir eine Anzahl von Tools, die uns dabei helfen, sich auch wirklich die Zeit zu nehmen, mit den Kollegen zu socialisen. Ein schönes Beispiel ist unser Virtual Coffee Klatch. Wir haben quasi den Small Talk an der Kaffeemaschine virtualisiert: Jeden Tag um 10.30h treffen sich alle Kollegen, die Lust und Zeit haben, in einer zentralen Videokonferenz und trinken gemeinsam Kaffee. Dabei versuchen wir soweit wie möglich, nicht parallel zu arbeiten, sondern uns wirklich aufeinander zu konzentrieren. Ein anderes Beispiel ist ein Chatbot, der uns zu bestimmten Zeit auffordert, persönliche Details mit unseren Kollegen zu teilen. Dinge wie "Was machst Du in Deiner Freizeit? Welche Bücher hast Du zuletzt gelesen? Welchen Sport betreibst Du? Was war am Wochenende bei Dir los?" Natürlich ist die Beantwortung der Fragen komplett freiwillig, die Antworten helfen uns aber, uns auch remote als Kollegen persönlich kennenzulernen.

Was ändert sich gerade durch die Corona-Pandemie in Bezug auf dein Homeoffice, insbesondere im Hinblick auf soziale Kontakte?

Nina Jonker-Völker: Tatsächlich sind wir wohl in der glücklichen Situation, dass sich unser Arbeitsalltag durch die Corona-Pandemie erstmal nur bedingt ändert. Als Remote-Only Unternehmen ist Home Office für uns der normale Arbeitsmodus. Trotzdem haben wir uns in Bezug auf Kunden- und Partnertermine und Hackathons natürlich erstmal dazu entschlossen, auch all diese Termine zu virtualisieren, um uns und unsere Familien zu schützen und zur Eindämmung des Virus beizutragen. Außerdem springen durch die Schließung von Schulen und Kindergärten während unserer Videokonferenzen ab und an mehr Kinder durch's Bild. Vor Corona haben wir uns außerdem regelmäßig einmal im Monat zum Co-Worken an einem Ort getroffen. Diese Termine haben wir bis auf Weiteres abgesagt und konzentrieren uns stattdessen mehr auf's virtuelle Co-Worken.

Denkst du, dass nach der Krise die Unternehmen offener sind für Konzepte wie Home-Office und Remote Work?

Nina Jonker-Völker: Ich glaube, dass uns die Krise bezüglich Home-Office zweierlei Entwicklungen bringen wird: Einerseits müssen viele Firmen, die den Auf- und Ausbau von Remote Infrastruktur bisher versäumt oder hintangestellt haben, jetzt sehr schnell nachziehen. Viele Unternehmen kommen darum jetzt auf uns zu und holen sich Tipps und Tricks, um schnell in einen guten Home-Office Modus zu finden. Diese Infrastruktur und die Erkenntnis, dass Home-Office ein völlig normaler, produktiver Zustand sein kann, werden hoffentlich nicht mehr weggehen.

Und wie schätzt du die Akzeptanz für neue Arbeitskonzepte in Zukunft ein?

Nina Jonker-Völker: Ich bin überzeugt davon, dass es Mitarbeitern in Zukunft einfacher gemacht wird, flexibel im Home-Office zu arbeiten, und dass die Kombination von Home-Office und Company-Office zukünftig reibungsloser funktionieren wird. Gleichzeitig denke ich auch, dass die erzwungene Isolation die Wertschätzung von Office Settings bei vielen Arbeitnehmern steigen lassen wird. Insofern glaube ich, dass nach der Krise Konzepte, die flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten mit sozialem Austausch kombinieren, noch sehr viel wichtiger und erfolgreicher werden.

Vielen Dank, für den Erfahrungsaustausch, liebe Nina!

 

Weiterführende Links

Tipps von achtung!-Agenturchef Mirko Kaminski: 100 % Homeoffice – wie hält man alle beisammen? 

Kommentar von IT-Unternehmer Christian Meyer: Homeoffice - es geht nicht nur um Technik

Journalistin Simone Fasse: Warum dieses Homeoffice anders ist

Kostenloser Homeoffice-Guide von t3n zum Download: Produktiv arbeiten trotz Corona

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Digitaler Wandel: Es geht nicht um Technologien sondern um Menschen

Bereit für Job 4.0?

 


Scale für Meter

Quantencomputer und Datensicherheit: Es steht viel auf dem Spiel.

Quantencomputer können unsere Welt simulieren, Berechnungen mit unzähligen Variablen durchführen und daraus Vorhersagen treffen, die heutige Supercomputer nicht leisten können. Noch ist es der Welt nicht gelungen, einen solchen Quantencomputer zu entwickeln, doch die größten IT-Firmen weltweit forschen daran – von den Geheimdiensten mal ganz abgesehen. Warum es ein großes Problem ist, dass wir die Daten von heute nicht vor einem Quantencomputer von morgen schützen können, erklärt Prof. Dr. Tanja Lange, Expertin für Post-Quantum Kryptographie. Im Interview erläutert sie, welche Gefahr der Quantencomputer für unsere Datensicherheit darstellt und wie ‚normale‘ Menschen üblicherweise auf ihr Forschungsgebiet „Quantenresistente Kryptografie“ reagieren.

Frau Lange, können Sie kurz erklären, womit genau Sie sich beruflich beschäftigen?

Ich arbeite als Professorin an der Eindhoven University of Technology. Mein Spezialgebiet ist die Kryptografie. Als Professorin gebe ich Vorlesungen, betreue ich Bachelor- und Masterarbeiten und betreibe ich Forschung. Kryptografie beschützt Daten, so dass kein Unbefugter sie lesen oder unbemerkt verändern kann.

Was ist ein Quantencomputer?

Ein Quantencomputer ist ein Computer, der Phänomene in der Quantenmechanik ausnutzt, um Berechnungen durchzuführen. Feynman hat Quantencomputer vorgeschlagen, um Quantenmechanik effizient zu simulieren.

Können Sie in einfachen Worten erklären, wo der Unterschied zum Supercomputer bzw. normalen Computer liegt?

Ein Quantencomputer kann nicht nur mit Bits, also 0 und 1, arbeiten, sondern auch mit Qubits, die verschiedene Zustände gleichzeitig annehmen. Dies bezeichnet man als Superposition. Ein normaler Computer kann solche Berechnungen simulieren, aber das benötigt exponentiell mehr Bits. Ein Beispiel:

"Für 4 Qubits braucht ein Computer gerade mal 16 Bits, für 32 Qubits befinden wir uns im Bereich der Gigabytes, was für Laptops kein Problem ist, aber 256 Qubits benötigen schon astronomische 2^256 Bits. Und das ist mehr als das Universum Atome hat."

Auf all diesen Qubits rechnet ein Quantencomputer gleichzeitig, wie ein großer Supercomputer, der parallel mit allen Eingabewerten rechnet. Im Gegensatz zum Supercomputer kann man aber nicht auf die Ergebnisse einzeln zugreifen: am Ende jeder Berechnung auf einem Quantencomputer steht eine Messung, die klassische Bits gemäß der Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Zustände ausgibt. Quantenalgorithmen müssen also so konstruiert sein, dass das gewünschte Ergebnis eine hohe Wahrscheinlichkeit hat.

Wer forscht gerade an der Entwicklung von Quantencomputern?

In den USA sind das vor allem große Firmen, wie Google, IBM, Intel und Microsoft. Diese haben die universitäre Forschung aufgekauft, z.B. hat Google eine führende Gruppe von der Universität in Santa Barbara übernommen. Es gibt auch schon Startups. In China sind es auch die großen Firmen, wie z.B. Alibaba. In Europa sehen wir noch öffentliche Forschung an Universitäten, z.B. in Delft und Kopenhagen, aber auch diese haben große Projekte mit den amerikanischen Firmen. Zusätzlich gibt es sicherlich noch Forschung in den Geheimdiensten der größeren Länder, aber Details dazu sind nicht bekannt. Die Snowden-Files zeigten einige Millionen US Dollar im 'black budget". Dieser Betrag ist nicht genug, um an der Spitze mitzuspielen. Andererseits ist diese Information von 2013 und inzwischen könnte natürlich mehr Budget vorhanden sein.

Es heißt, Google habe einen Quantencomputer entwickelt. Ist das aus Ihrer Sicht glaubwürdig? Wenn ja, welche Konsequenzen hätte das?

Google hat kürzlich über ein Experiment berichtet, in dem sie eine Berechnung auf einem Quantencomputer deutlich schneller als auf dem größten Supercomputer durchgeführt haben.

Google und IBM sind momentan führend im Bauen von Quantencomputern. Diese sind knapp größer als wir mit einem Supercomputer effizient simulieren können, aber die Berechnung, die Google durchgeführt hat, hat keinen praktischen Nutzen. IBM hat kurz nach der Google-Ankündigung gezeigt, dass der Zeitunterschied zu ihrem Supercomputer viel kleiner ist, als Google angegeben hatte. Diese Resultate sind wissenschaftlich sehr interessant haben aber noch keine direkten Konsequenzen.

Wofür braucht man diese Geräte?

Quantencomputer können unsere Welt effizient simulieren, dies ist wichtig in der Wettervorhersage und in der Entwicklung von Medikamenten oder von Düngemitteln; also generell überall, wo ein physikalisches System mit vielen Variablen beschrieben werden kann, und dann viele Wechselwirkungen berechnet werden müssen. Für die heutigen Supercomputer sind diese Systeme zu groß, so dass Berechnungen nur für vereinfachte Systeme durchgeführt werden können, wodurch die wirkliche Wirkung der Moleküle nur durch Experimente herausgefunden werden kann.

In Ihrem Vortrag auf der OOP-Konferenz sprechen Sie über Quantencomputer und Datensicherheit. Inwiefern stellt der Quantencomputer eine Gefahr für die Sicherheit unserer Daten dar?

Quantencomputer können einige mathematische Probleme deutlich schneller als unsere normalen Rechner lösen. Solche Probleme müssen eine bestimmte Struktur haben, und die wird leider in den gängigen Kryptosystemen benutzt. Das berühmteste Beispiel ist das RSA System von 1977, benannt nach seinen Erfindern Rivest, Shamir und Adleman. RSA wird noch immer überall im Internet und auf Chipkarten benutzt, aber es basiert auf einem mathematischen Problem, das Quantencomputer viel schneller lösen können als herkömmliche Rechner. Das bedeutet, dass alle Daten einem Angreifer mit einem Quantencomputer hoffnungslos ausgeliefert sind.

"Was die Situation noch viel schlimmer macht, ist, dass Geheimdienste und Kriminelle unsere Kommunikation schon seit Jahren aufzeichnen und dann in der Zukunft entschlüsseln können. Wenn die Daten dann noch geheim sein müssen, ist das ein Problem."

Der Sender hätte heute schon ein anderes System benutzen müssen. Es hilft leider nicht, die geheimen Daten später noch anders zu verschlüsseln, denn der Angreifer hat dann ja schon die anfällige Version gespeichert.

Wie begegnet die Online-Welt dieser Gefahr?

Glücklicherweise sind sich mehr und mehr Leute dieser Gefahr bewusst. Ich war sehr erfreut über die Einladung zur OOP-Konferenz, weil das zeigt, wie weit diese Gefahr bekannt ist. Die Akademie der Wissenschaften in den USA hat Ende 2018 einen langen Bericht herausgegeben, der 10 Punkte hervorhebt. Einer davon ist, dass es sehr dringend ist, sich auf diese Gefahr vorzubereiten und Abhilfe zu schaffen. Zurzeit sind viele Forscher damit beschäftigt neue Kryptosysteme zu erfinden und zu analysieren, deren Sicherheit auch Angriffen mit Quantumcomputern standhält. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen und findet sehr viel Interesse.

Ihr Thema weckt wahrscheinlich bei vielen Menschen Assoziationen zu düsteren Geheimdienst-Filmen. Ist Ihre Forschung wirklich so aufregend oder gibt es Ergebnisse, die einer gewissen Geheimhaltung unterliegen?

All meine Forschung ist öffentlich, weil ich versuche, allen Menschen eine sichere Kommunikation zu ermöglichen. Firmen halten manchmal gute Ergebnisse zurück und bei Geheimdiensten weiß man nie, auf welcher Seite sie stehen – das haben die Snowden Daten nur bestätigt. So gesehen ist das Gebiet schon anders als andere Wissenschaften.

Physikern und Mathematikern wird gemeinhin eine besonders hohe Intelligenz zugesprochen. Wie reagieren Menschen außerhalb Ihres Berufslebens, wenn Sie erzählen, dass Sie Forschung im Bereich quantenresistenter Kryptografie betreiben?

Das braucht dann meist schon eine längere Erklärung, aber Kryptografie und Sicherheit finden die meisten schon spannend.

Gibt es auch Dinge, die Sie in der Mathematik nicht verstehen?

Mathematik ist ein riesiges Gebiet und es gibt viel, was ich noch nicht kenne. Es ist auch ein aktives Forschungsgebiet mit vielen offenen Fragen, was bedeutet, dass es viele Dinge gibt, die niemand bislang versteht. Und das macht das Gebiet sehr spannend.

 

Prof. Dr. Tanja Lange
Prof. Dr. Tanja Lange, Expertin für Post-Quantum-Kryptografie

Tanja Lange ist seit 2006 Professorin an der Technischen Universiteit Eindhoven (Niederlande). Ihre Forschung überbrückt die Gebiete der algebraischen Geometrie, theoretischer Kryptographie und praxisnaher Informationssicherheit. Sie ist Expertin in Kryptographie mit Kurven und in Post-Quantum Kryptographie. Zudem ist sie Mitglied des Editorial Boards für diverse wissenschaftliche Zeitschriften und im Steering Committee für Konferenz-Serien, inklusive der Post-Quantum Cryptography Konferenzen. Sie war Koordinatorin des EU-H2020 Projekts PQCRYPTO – Post-quantum cryptography for long-term security (pqcrypto.eu.org). Sie spricht auf Konferenzen zu Kryptographie und Sicherheit und hat mehr als 70 Artikel und Bücher geschrieben, darunter ein Aufsatz in Nature zur Post-Quantum Cryptography.

 

 

 

 

Weiterführende Links:

Keynote am 5.2.2020 auf der OOP-Konferenz 2020: https://www.oop-konferenz.de

EU-H2020 Projekt PQCRYPTO pqcrypto.eu.org

 

Interne Links:

Technologie und Moral:Hippokratischer Eid für IT-Berufe?

KI und Ethik: Wissen sie, was sie tun?


Dr. Anita Sengupta, Mitbegründerin, Airspace Experience Technologies (ASX), USA. Forschungsprofessorin für Raumfahrttechnik, Universität von Südkalifornien

Mobilität und Verkehr:
Wie Raumfahrttechnologie den CO2-Fußabdruck reduzieren wird

Wie kann Raumfahrttechnologie unseren CO2-Ausstoß reduzieren? Die Amerikanerin Dr. Anita Sengupta, die als Luft- und Raumfahrtingenieurin viele Jahre bei der NASA tätig war, hat sich als Chefentwicklerin des sogenannten Hyperloops einen Namen gemacht. Im Jahr 2019 wurde sie Mitgründerin und Chief Product Officer von Airspace Experience Technologies (ASX) - ein Start-Up, das ein hybridelektrisches, vertikal startendes und landendes städtisches Luftmobilitätssystem entwickelt. Die Pilotin wird im Februar 2020 auf der OOP-Konferenz in München zeigen, wie Raumfahrt-Technologie in Verbindung mit Venture Capital einen umweltfreundlichen Verkehr ermöglicht. Ich durfte in einem Telefoninterview mit ihr darüber sprechen, wie sie Mobilität revolutionieren und den CO2-Fußabdruck des Flugverkehrs reduzieren will.

Können Sie kurz die Projekte skizzieren, an denen Sie als Luft- und Raumfahrtingenieurin in den letzten Jahren gearbeitet haben?

Ich habe den größten Teil meiner Karriere im Raumfahrtprogramm der NASA gearbeitet. Meine Doktorarbeit beschäftigte sich mit Plasmaantrieben, ja, das ist Raketenwissenschaft. Danach arbeitete ich an Einstiegssystemen für die Landung auf der Oberfläche anderer Planeten, insbesondere mit dem Landungssystem für den Curiosity Rover auf dem Mars, einem Venus Lander, einem Mars-Aufstiegsfahrzeug und der Orion Earth Return Capsule. Anschließend wechselte ich als Missionsleiterin zur International Space Station (ISS), um dort das Kaltatom-Labor zu entwickeln und zu leiten. Im Jahr 2017 entschied ich mich, die NASA zu verlassen, um meine Expertise der Entwicklung grüner Transportmittel zu widmen, zunächst als Führungskraft bei Virgin Hyperloop und nun als Mitbegründer eines Unternehmens für elektrische VTOL-Flugzeuge, oder besser bekannt als Lufttaxis.

Das Unternehmen Airspace Experience Technologies ASX, das Sie mitgegründet haben, will die urbane Mobilität revolutionieren. Worum geht es da genau?

ASX ist ein Start-Up, das ein emissionsfreies Flugmobilitätsfahrzeug entwickelt. Ziel ist es, den Share Ride Transport in städtischen und vorstädtischen Umgebungen, die unter Straßenüberlastung leiden, zu erleichtern. Ich persönlich sehe ein Ende des individuellen Autobesitzes zugunsten einer gemeinsamen, emissionsfreien Transportmöglichkeit am Boden und in der Luft. Die Urbane Luftmobilität (UAM) wird die Entwicklung der elektrischen Luftfahrt anstoßen, und zwar durch die Nutzung von gespeicherter Energie aus Batterien. Wenn das Netz mit grünem Strom wie Sonne oder Wind betrieben wird, wird der CO2-Fußabdruck deutlich reduziert. Was als nächstes kommt, sind mit Wasserstoff-Brennstoffzellen betriebene Regionalflugzeuge und schließlich Langstrecken-Jet-Flugzeuge, die auf Wasserstoff beruhen.

 

“Einer der effizientesten Verkehrsträger pro Passagierkilometer ist der kommerzielle Flugverkehr, der aber immer noch auf fossile Brennstoffe angewiesen ist.”

 

Der Verkehr in den europäischen Metropolregionen steht vor dem Kollaps. Inwieweit wird die Luft- und Raumfahrttechnik echte Alternativen bieten können?

Als Amerikanerin bin ich sehr beeindruckt von Europas riesigem Eisenbahnnetz, den städtischen U- und Stadtbahnsystemen und dem Drang, in nachhaltige Luftfahrttechnologien zu investieren. Ironischerweise ist eine der energieeffizientesten Reisemöglichkeiten pro Passagierkilometer der kommerzielle Flugverkehr, da er als Shared Service betrieben wird. Das Problem ist jedoch, dass der Luftverkehr immer noch auf fossile Brennstoffe angewiesen ist. Der Übergang zu einem emissionsfreien Flugverkehr wird einen Paradigmenwechsel in unserer Energiewirtschaft und unserer CO2-Bilanz ermöglichen. Massenverkehrsmittel, öffentliche Verkehrsmittel und der Verzicht auf die individuelle Autonutzung sind die Lösung.

 

“Der Flugverkehr ist bereits heute größtenteils auf den Autopiloten angewiesen. Ein kommerzieller Flug und die Autonomie in der Luft ermöglicht ein effizienteres Verkehrsmanagement. Daher ist die Ausdehnung auf die Nutzung des Luftraums in niedriger Höhe mit urbaner Luftmobilität eine natürliche Entwicklung.”

 

Weltweit gibt es etwa 140 Projekte für Lufttaxis. Was unterscheidet Ihr Projekt bei Airspace Experience Technologies von den anderen?

Wir entwickeln ein Kippflügelflugzeug, das auch konventionell starten und landen kann, wobei die bestehende Flughafeninfrastruktur maximal genutzt wird und das mit einer höheren Effizienz als ein Rotorflugzeug. Das Lufttaxi ist so konzipiert, dass es kurze Strecken innerhalb von Stadtgebieten zurücklegen kann. Wir setzen Technolgie aus dem Automotivebereich wirksam ein, um Kosten zu senken und die Massenproduktion zu erleichtern. D.h. wir nutzen Technologien, die bereits in der Elektroautoindustrie eingesetzt werden: zum Beispiel Batterien, Motoren und Steuerungssoftware. Da wir die bestehende Technologie dort einsetzen wollen, wo es sinnvoll ist, können wir die Tiefflugzeuge erschwinglicher machen und den täglichen Taxinutzern eine Fahrt via Lufttaxi ermöglichen.

Glauben Sie, dass eine Revolution im Bereich des emissionsfreien Verkehrs bevorsteht?

Ja, in den nächsten zwei bis drei Jahren werden wir die ersten kommerziellen Flüge von Lufttaxis sehen und in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Verlagerung auf den emissionsfreien Flugverkehr über längere Strecken.

 

“Gemeinsame Lufttaxis mit öffentliche Nahverkehr aus U- und S-Bahn sowie die Eliminierung der individuellen Autonutzung ist die Lösung.”

 

Wann werden die ASX Taxis voraussichtlich marktreif sein?

Wir planen, unsere Lufttaxis ab 2023 in der Logistik einzusetzen, zum Beispiel für den Transport von Medikamenten, Ärzten und Verbrauchsmaterial. Zwei bis drei Jahre später planen wir die Lufttaxis für den Personentransport einzusetzen.

Wie weit sind Sie in der Entwicklung der ASX Taxis fortgeschritten?

Bis heute haben wir sechs Fahrzeuge gebaut, die im Subscale-Bereich angesiedelt sind, das größte davon ist ein Drittel der Entwicklungsskala. Wir haben bisher Vertikalstart, Reiseflug und Landung unter der Softwarekontrolle unserer Vollverbund-Flugzeuge demonstriert.

Welche Technologie muss noch entwickelt werden, damit die elektrische Luftfahrt Realität wird?

Batterien mit verbesserter Energiedichte für Kurzstrecken-Lufttaxis, dicht gefolgt von Wasserstoff-Brennstoffzellen für Regionalflugzeuge.

 

“Die Geschäftsluftfahrt ist auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, sowohl beim Treibstoff als auch bei den Plattformen. Elektroflugzeuge sind die nächste Evolution.”

 

Ist eine staatliche Regulierung notwendig für die Technik, die Flugsicherung etc.? Wäre eine Regulierung eine Hilfe oder ein Hindernis?

Eine Regulierung, die Hand in Hand mit neuer Technologie entwickelt wird, sorgt dafür, dass wir sichere, zuverlässige Transporte und nützliche Lösungen für den öffentlichen Verkehr haben. Wir alle, der öffentliche und der private Sektor, haben eine Rolle zu spielen, um sicherzustellen, dass Technologien entwickelt werden, die unseren CO2-Fußabdruck sicher und effizient reduzieren.

Wer werden die wirklichen Nutzer solcher innovativer Verkehrskonzepte sein? Sprechen wir von privilegierten Bürgern, die sich teure Verkehrsmittel leisten können?

Unser Ziel ist es, die Luftmobilität für jeden zugänglich und erschwinglich zu machen. Sie ist für den öffentlichen Verkehr gedacht, also für jeden, der ein Taxi nehmen würde.

Und das Taxi selbst, wie viel wird es kosten?

Eine Fahrt wird ähnlich teuer sein wie die mit einem herkömmlichen Taxi oder einem Uberfahrzeug, aber die Fahrzeit wird bis zu fünf mal so schnell sein.

Die ASX Lufttaxis sollen in einer späteren Entwicklungsphase autonom fliegen können. Wie bringen Sie die Menschen dazu, Ihrer Technologie zu vertrauen?

Dr. Anita Sengupta
Dr. Anita Sengupta, Mitgründerin, Airspace Experience Technologies (ASX), USA. Forschungsprofessorin für Raumfahrttechnik, Universität von Südkalifornien

Ich denke, urbane Luftmobilität (UAM) wird anfangs natürlich mit Piloten im Einsatz beginnen. Sicherheit ist das wichtigste, was wir als Ingenieure, als Führungskräfte und als Bürger beachten müssen.

Vielen Dank, für die interessanten Einblicke, Dr. Sengupta!

Weiterführende Links:

Über Dr. Anita Sengupta

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Retouren senken durch bessere Passform

So macht es Zalando: Retouren senken durch bessere Passformen

Zalando möchte, dass weniger Kunden ihre Kleidung wegen Passformproblemen zurückschicken. Denn obwohl Auswahlkäufe im Fashion-Onlinehandel zum Geschäftsmodell dazu gehören, verursachen sie hohe Kosten – und auch der Kunde ist enttäuscht, wenn der bestellte Sneaker wider Erwarten nicht passt. Aktuelle Studien besagen, dass jeder retournierte Fashionartikel den Händler durchschnittlich rund 5 Euro kosten – bei einer Retourenquote von fast 40 Prozent kommt das die Händler also teuer zu stehen. Retouren senken steht daher weit oben auf ihrer To-do-Liste.

Bei Zalando erfolgen etwa ein Drittel aller Retouren aufgrund von zu klein oder zu groß bestellten Artikeln. Um die Retouren zu senken, hat der IT-Konzern viele innovative Ideen – die meisten davon sind aber noch Zukunftsmusik. Bis sie einsatzfähig sind, behilft sich Zalando erstaunlich klassischer Methoden. Ich habe mit Stacia Carr, Director of Engineering/Sizing bei Zalando, über ihre Pläne gesprochen.

Wie steht Zalando zu Retouren?

Retouren sind für Zalando im Allgemeinen kein Problem. Wir sehen es als einen wichtigen Teil unseres Leistungsversprechens für unsere Kunden. Wenn ihnen ein Artikel nicht gefällt, können sie ihn zurückgeben, so wie sie ihn in einem Offline-Shop wieder zurück ins Regal legen können. Durch Verbesserungen im Online-Kundenerlebnis können jedoch größenbedingte Retouren reduziert werden. Während eine Offline-Umgebung es dem Kunden ermöglicht, Artikel anzuprobieren, beinhaltet der Onlinekauf von Kleidung den zusätzlichen Schritt einer Rückgabe. Dieser zusätzliche Schritt erfordert, dass wir prüfen, wie wir den Kunden vor dem Kauf eine Größen- und Passform-Beratung anbieten können, um eine unnötige Rückgabe zu vermeiden.

Retouren senken ist ein wichtiges Thema im Online-Handel. Andere Anbieter schränken bereits ihren kostenlosen Versand ein. Ist das auch für Zalando eine Option?

In einigen Märkten haben wir einen Mindestbestellwert eingeführt, wie viele andere Anbieter auch. Dies ist in Deutschland derzeit nicht der Fall.

Die Bestellung eines Produkts in verschiedenen Größen ist einfach und kostenlos. Wie wollen Sie Ihre Kunden motivieren, nur eine Größe zu bestellen?

Für Kunden, die mehrere Größen bestellen und die meisten zurückschicken möchten, ist diese Option weiterhin kostenlos verfügbar, sie ist wie gesagt ein wichtiger Teil unseres Leistungsversprechens. Wir möchten den Käufern jedoch Ratschläge geben, um ihr Erlebnis zu verbessern. Innerhalb des Sizing-Teams tun wir dies durch Beratung zu Größe und Passform. Wenn wir Kunden davon überzeugen können, dass unsere Sizing-Beratung einen Mehrwert für ihre Erfahrung darstellt, dann hoffen wir, dass sie bei der ersten Bestellung die richtige Größe erhalten. Wir hoffen, das gibt ihnen das Vertrauen, neue Marken und Looks zu entdecken.

In den letzten Jahren gab es verschiedene Ideen, wie man passformbedingte Retouren reduzieren kann. Das bisherige Problem bestand darin, die Daten der Kunden mit den Daten der Produkte abzugleichen. Wie bekommen Sie die Maße der Kleidung und der Kunden?

Unsere Beratung für die aktuelle Größe konzentriert sich auf ein tiefes Verständnis unserer Produkte. Wir bieten unseren Kunden eine Größenberatung zu rund 80 Prozent unseres Sortiments in zwei Formen an: Die erste ist eine Größenmarkierung, die den Kunden darüber informiert, ob bestimmte Artikel größer oder kleiner ausfallen. So kann der Kunde die Wahl treffen, eine Nummer größer oder kleiner zu bestellen. Die zweite Form der Beratung ist eine personalisierte Größenempfehlung, bei der wir aktiv eine bestimmte Größe empfehlen, die sowohl auf unserem Verständnis des Produkts als auch auf der Kaufhistorie des Kunden und den Präferenzen bei Größe und Marke basiert.

Stacia Carr, Director of Engineering/Sizing bei Zalando spricht über Retourenvermeidung

"In Zukunft erforschen wir außerdem neue Technologien, wie z.B. die visuelle Anpassung. Der Schlüssel dazu sind die Körpermaße der Kunden und ihre Bereitschaft, uns diese Informationen zur Verfügung zu stellen", Stacia Carr, Director of Engineering/Sizing bei Zalando

Wir erforschen Methoden wie beispielsweise die Verwendung von Smartphones zur Erzeugung von 3D-Bildern von Kunden und ermöglichen es Kunden, Avatare auszuwählen, die ihrem Profil entsprechen. Aber das alles ist noch in der Zukunft. Ziel ist es, unsere Expertise bei den Produktdaten mit einem besseren Verständnis über unsere Kunden zu verbinden und ein besseres Kundenerlebnis zu bieten.

Wie findet Zalando heraus, welche Abmessungen ein Produkt hat? Kommen die Maße von den Herstellern oder anderen Datenlieferanten?

Nach unserer Erfahrung sind Messungen der Hersteller nicht immer zuverlässig. Dies hat viele Gründe, z.B. wenn sich das Material des Endprodukts vom Muster unterscheidet. Deshalb testet unser Team von Passformmodels bei den 80 Prozent der Artikel, die in den Shop kommen, ob sie maßgerecht sind. Diese Produkte werden anprobiert und ausgemessen. Dies alles trägt dazu bei, dass wir unsere Produkte besser verstehen. Außerdem erforschen wir hier Technologien, wie z.B. die Computer-Vision zur Bestimmung von Messungen und ob ein Gegenstand wahrscheinlich größenbedingte Probleme hat oder nicht, basierend auf einem Machine-Learning Algorithmus.

Es gibt erste Versuche, die Körpermaße auf der Grundlage umfangreicher Reihenmessungen von Menschen in verschiedenen Ländern zu bestimmen und daraus Fit-Daten abzuleiten. Arbeiten Sie mit solchen Projekten?

Wir arbeiten mit vielen verschiedenen Teams in der gesamten Modebranche zusammen, die an der Größe und den dazugehörenden Themen forschen. Im Moment würden wir keine konkrete Zusammenarbeit öffentlich bekannt geben.

Eine Messung von Körper und Kleidung allein reicht wahrscheinlich nicht aus, um Passformen in der Kleidung zu definieren, insbesondere Skinny Fit Passformen. Wie löst man das Problem?

Dabei hilft uns unser Team von Fittingmodels. Wir haben rund 30 Models, die eine Vielzahl unseres Sortiments anprobieren: Schuhe, Jeans, Kleider, Hemden und viele andere Artikel. Unsere Fittingmodels bestimmen, ob ein Gegenstand maßgerecht ist oder ob die Passform tatsächlich etwas größer oder kleiner als die angegebene Größe ist. Unsere Models wissen, wie Skinny Fit Artikel passen sollen und geben uns den nötigen Input, ob wir eine Größenempfehlung für den Artikel abgeben sollten oder nicht.

Gibt es Lösungen, um den Stretcheffekt von Stoffen zu berechnen und ihn in Passformmodelle zu integrieren?

Stretch ist stark von der Stoffzusammensetzung abhängig; wir erforschen verschiedene Wege, um Daten über die Stoffzusammensetzung zu erhalten und daraus Regeln abzuleiten. Es ist noch zu früh, um über diese Experimente zu sprechen.

Ist die Größenberatung für alle Produkte und Zielgruppen geeignet? Womit haben Sie begonnen?

Wir haben mit Schuhen begonnen und uns dann entschieden, in drei weitere Kategorien zu wechseln: die Kategorien, die am häufigsten aufgrund von Größenproblemen zurückgeschickt werden, die schwer zu reparieren sind und die einen hohen Wert für die Kunden haben. Dazu gehören Jeans, Damenkleider und Herrenhemden. Wir haben jetzt außerdem noch Shorts und Jacken hinzugenommen. Grundsätzlich können alle Produkte angepasst werden, aber wir passen derzeit noch nicht die Kategorien Sport und Kinder an.

Sind unsere heutigen Kleidergrößen überhaupt noch ausreichend, um unseren Körper zu beschreiben?

Auf keinen Fall! Größensysteme, die zum Verkauf von Kleidung und Schuhen verwendet werden, sind ziemlich starr - menschliche Körper nicht! Wir verwenden diese Systeme heute in dem Bewusstsein, dass sie im Laufe der Zeit durch etwas ersetzt werden, das sich mehr um den Körper des einzelnen Kunden und seine Passformpräferenzen dreht. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Sie keine Größe wählen müssten, um eine Jeans zu kaufen - wie toll wäre das!

Brauchen wir also bald keine Kleidergrößen mehr, weil wir Produkte personalisiert produzieren?

Das ist definitiv eine Möglichkeit, aber sie liegt noch weit in der Zukunft. Unsere aktuelle Vision ist es, Größenprobleme bei Massenbekleidung durch entsprechende Beratung zu lösen. Natürlich schreiten die Technologien in einem unglaublichen Tempo voran, deshalb glaube ich, dass personalisierte Kleidung etwas ist, was wir in naher Zukunft sehen werden.

Wie arbeiten Sie mit Ihren Lieferanten zusammen, um die Passgenauigkeit zu erhöhen?

Derzeit besteht unsere Aufgabe darin, unsere Kunden auf der Grundlage der Produkte unserer Lieferanten zu beraten. Wir führen jedoch auch einen Dialog mit unseren Partnern, und informieren unsere sie darüber, welche Größen-Ratschläge wir unseren Kunden geben, und über die Möglichkeiten, die sie haben, das Erlebnis für unsere Kunden zu verbessern.

Zalando entwickelt eigene Kollektionen. Wie nutzen Sie Ihr Wissen über die Körpermaße Ihrer Kunden bei der Entwicklung neuer Produkte?

Unser Private Label-Team nutzt die Sizing-Daten zur Optimierung seiner Produkte. An den Eigenmarkenprodukten werden regelmäßige Rücklaufanalysen durchgeführt und diese Daten mit den Größenangaben verglichen. So stellen wir fest, inwieweit Größenprobleme die Ursache für die Rückgabe sein können.

Weiterführende Links:

Studie des EHI Retail Institut: https://www.ehi.org/de/pressemitteilungen/geklickt-gekauft-und-retourniert/

Weitere interessante Texte aus der Fashionwelt:

Interview Ryan Mullins: Über das Verschwinden des Digitalen

Fashion als Botschafter für Werte


Dream Team Diversität und Technik

Darum ist Diversität in der IT so wichtig

Seit Albert Einstein wissen wir, dass Probleme nicht mit denselben Denkweisen gelöst werden können, durch die sie letztendlich entstanden sind. Mit der Forderung nach mehr Diversität in Unternehmen soll genau diese Problematik angegangen werden. Denn: Je vielfältiger ein Team hinsichtlich Geschlecht, Herkunft, Alter, kulturellem Hintergrund, Denkweise, Fähigkeit und Berufserfahrung ist, desto umfassender und innovativer sind seine Lösungsansätze. Ich habe mit Jutta Eckstein, Keynote-Speakerin, Autorin mehrerer Fachbücher zum Thema Agile Software Entwicklung, Programmverantwortliche der Fachkonferenz OOP, kurz: eine der renommiertesten IT-Expertinnen Deutschlands über das Thema gesprochen. Das Ergebnis: Überraschend!

Jutta Eckstein bei der Eröffnung der OOP Konferenz 2019
Jutta Eckstein, OOP Konferenz
Frau Eckstein, wie sind Sie eigentlich in der IT gelandet?

Tatsächlich über Umwege. Nach einem Lehramt-Studium mit Sport und Kunsttechnik habe ich mich 1992 entschlossen, nochmal etwas ganz anderes zu studieren: Product Engineering mit dem Schwerpunkt Software Entwicklung.

Wie kann man sich die Studienlandschaft zu dieser Zeit vorstellen?

Natürlich sehr männerlastig. In allen technischen Studiengängen lag der Anteil der weiblichen Studentinnen im einstelligen Bereich. In manchen Studiengängen wie der Ingenieur-Informatik bei null.

Was hat Sie an der IT so fasziniert?

Ich bin tatsächlich erst recht spät mit IT in Kontakt gekommen – und sie haben mich gleich fasziniert. Mir haben vor allem die unendlich kreativen Möglichkeiten gefallen. Auch die Tatsache, dass man, wenn man sich nur intensiv mit einem Problem auseinandersetzt, es auch gelöst bekommt. Hinzu kommt - und das widerspricht dem heute immer noch verbreiteten Bild der IT-Branche – mir gefiel, dass IT ein „Teamsport“ ist. Ohne es explizit so zu benennen, wusste man schon damals, dass komplexe Probleme am besten im Team gelöst werden können.

Dann stimmt das Bild vom einsamen, nerdy Software-Entwickler nicht?

Nein! Ich habe das früher nicht so erlebt und auch heute brauchen wir andere Typen in der Software-Entwickler. Kommunikationsfähigkeit gegenüber Kunden und Kollegen ist extrem wichtig! Es ist tatsächlich das größte Problem unserer Branche, dass wir immer noch diesen unvorteilhaften Ruf haben und Menschen, die nichts mit IT zu tun haben, glauben, dass wir alles einsame Wölfe wären. Zudem zieht diese Reputation auch nicht immer die richtigen Leute in unsere Studiengänge.

 

"Niemand kann heute die Herausforderungen unserer Zeit alleine vor dem Rechner lösen. Das geht nur in Teams mit unterschiedlichen Kompetenzen." Jutta Eckstein

 

Hat sich die Position von Frauen in der IT im Laufe der Zeit geändert?

Tatsächlich waren viele Computerpioniere, also die Menschen, die die ersten Computer programmierten, Frauen. Und interessanterweise wuchs in den USA die Zahl der Frauen, die Informatik studierten, jahrzehntelang schneller als die Zahl der Männer. Mitte der 1980er Jahre änderte sich das. Der Anteil der Frauen in der Informatik verringerte sich dramatisch – obwohl er in anderen technischen Bereichen weiter stieg. Laut Statistik liegt in Deutschland der Frauenanteil in der IT bei rund 16 Prozent. In meiner „agilen Ecke“ ist der Anteil höher, auch weil wir uns in diesem Fachgebiet der IT einen anderen Ruf erarbeitet haben. Es geht also aufwärts, aber immer noch sehr langsam.

Wie erklären man sich diesen Einbruch Mitte der 80er Jahre?

Der Anteil der Frauen in der Informatik begann ungefähr zu dem Zeitpunkt zu sinken, als PCs die privaten Haushalte überall auf der Welt eroberten. Diese frühen PCs waren zwar nicht viel mehr als Spielzeuge, aber sie adressierten vor allem Männer und Jungen. Das verschaffte männlichen Studienanfängern einen großen Vorteil. Weibliche Studenten hingegen hatten das Gefühl, den Vorsprung nicht aufholen zu können und wandten sich anderen Studien zu. Dieses Bild, dass Computer bzw. IT Männer- oder Jungensache sei, existiert bis heute und es verblasst nur sehr langsam.

USA: Der Anteil der Informatik-Studentinnen sank Mitte 1980 dramatisch
USA: Der Anteil der Informatik-Studentinnen sank Mitte 1980 dramatisch
War es schwierig, sich unter all den Männern zu behaupten?

Am Anfang gab es Momente, die waren schwierig. Jungsein UND weiblich waren zu Beginn eine problematische Kombination. Natürlich gab es auch bei mir Situationen, in denen man mich zunächst nicht ernst genommen hat, etwa, wenn ich Schulungen durchführte. Rückblickend gab es aber auch Vorteile, denn als Frau in der IT fällt man natürlich auch auf.

Bei der Forderung nach mehr Diversität in Unternehmen hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Gerade erst hat z.B. Zalando bekannt gegeben, verschiedene Diversity Targets einzuführen. Welche Rolle spielt Diversität in IT-Teams?

Eine sehr große! Heute und in Zukunft wird es immer mehr Berührungspunkte mit Produkten und Anwendungen geben, die softwaregesteuert sind. Umso wichtiger, dass diese Technologien auch von der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit genutzt werden können. Tatsache aber ist, dass die Technik-Abteilungen dieser Welt vor allem aus männlichen, weißen Personen bestehen. Auch der Kulturkreis dieser Personen ist eher der westlichen oder asiatischen Welt zuzuordnen. Was auf den ersten Blick für viele wenig problematisch aussieht, zeigt im Detail allerdings einige Risiken. Denn fehlende Diversität kann bei der Entwicklung von IT-Produkten zu Problemen führen.

Inwiefern?

Je weniger divers Entwicklungsteams sind, umso eher passieren Fehler, weil Aspekte nicht bedacht werden – das geschieht völlig unabsichtlich!

 

"Nicht die Technologie selbst ist dann das Problem, sondern der ökonomische oder soziale Kontext, in dem die Technologie entwickelt wurde!" Jutta Eckstein

Können Sie ein Beispiel nennen, warum Diversität und Technik ein Dream Team sind?

Wenn Tests in homogenen Gruppen durchgeführt werden, fallen Anwendungsprobleme für Nutzer außerhalb dieser Gruppe nicht so auf. Berühmtestes Beispiel hierfür ist wohl der automatische Seifenspender, dessen Sensor nur bei weißer und nicht bei schwarzer Haut reagierte. Bei selbstlernender Software dagegen besteht z.B. die Gefahr, dass Systeme nicht ausreichend ausgeglichenes Lernmaterial zur Verfügung gestellt bekommen. Gesichtserkennungs-Software etwa kann weiße, männliche Gesichter besser unterscheiden, da sie meist von homogenen Teams aus weißen Männern entwickelt und vorwiegend mit Bildern weißer Männer trainiert wird. Auch besteht das Risiko, dass z.B. KI-gesteuerte Jobangebote Menschen diskriminieren können, weil sie allein aus der Datenbasis gelernt haben, dass z.B. Frauen viel seltener eine technisch ausgerichtete Stelle annehmen. Das System hat dann „gelernt“, dass es sich nicht lohnt, Frauen solche Stellen anzubieten. Divers zusammengesetzte Teams sind sehr viel sensibler für solche unabsichtlichen Fehlentwicklungen und können von vorneherein gegensteuern.

Warum glauben Sie ist das Thema Diversität in der IT heute so aktuell?

Die Zeit ist einfach ein Stück reifer das Thema, denn die Forderung danach gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dieser Prozess braucht Zeit, denn wir reden ja schon seit Jahren darüber. Aber es tut sich etwas. Sogar Fonds-Gesellschaften machen Aktivitäten in diesem Bereich zur Bedingung für ihre Anlageentscheidung weil sie wissen, dass Unternehmen mit Diversity-Aktivitäten eine verbesserte Performance aufweisen! Anderes Beispiel:

 

"Vor fünf bis sieben Jahren hatte keine Konferenz einen Code of Conduct. Heute haben ihn alle! Und nicht wenige Speaker machen ihr Kommen davon abhängig." Jutta Eckstein

 

Gerade erst wurde die Entwicklerkonferenz PhpCE in Dresden wegen fehlender Diversität bei den Vortragenden abgesagt. Wie stehen Sie zu dieser Entscheidung?

Das finde ich schon erstaunlich, aber eigentlich bestätigt es nur meinen Eindruck, dass auch in der IT heute keiner mehr reine Männerriegen sehen will. Ich kenne diese Konferenz allerdings nicht.

Auch wenn wir gerne ein ausgewogenes Bild in den IT-Teams hätten, die Realität sieht anders aus. Wie schafft man es dennoch, IT-Produkte zu entwickeln, die für alle funktionieren?

Ganz wichtig ist es, ein Bewusstsein für die bestehende einseitige Perspektive zu schaffen! Kontinuierliche Reflexion hilft, und es macht Sinn, alle Entscheidungen im Entwicklungsprozess anhand eines vorab definierten Diversity-Katalogs zu prüfen.

Vielen Dank für das superinteressante Gespräch!

Weiterführende Links:

McKinsey Studie: https://www.mckinsey.com/de/news/presse/neue-studie-belegt-zusammenhang-zwischen-diversitat-und-geschaftserfolg

Studie Frauen in der IT-Branche: https://de.statista.com/infografik/13283/frauen-in-der-tech-branche/

 

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Brax Kollektion 2019

Warum Vertrauen wichtig für eine erfolgreiche Transformation ist

Die Modebranche hat es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt. Viele namhafte, alteingesessene Unternehmen der Branche haben Insolvenz anmelden müssen. Der größte Vorwurf: mangelnde Agilität! Viel zu sehr hat man an alten Strukturen festgehalten, viel zu wenig hat man in Neues investiert, oft mangelte es an Vertrauen in den Change-Prozess. Ein Unternehmen, das den Spagat zwischen Tradition und Moderne offensichtlich gut hinbekommt, ist die Leineweber GmbH aus Ostwestfalen, die mit ihrer Marke Brax 2018 einen Umsatzrekord verzeichnen konnte. Ich wollte von Marc Freyberg, Director Marketing & E-Commerce sowie Unternehmenssprecher bei Brax wissen, wie man es als 130 Jahre altes Unternehmen schafft, nicht betriebsblind zu werden und welche Rolle in all der Disruption das Wörtchen „Vertrauen“ spielt.

 

Marc Freyberg von Brax spricht über Vertrauen
Marc Freyberg von Brax spricht über Vertrauen

Herr Freyberg, Sie sind seit fast 29 Jahren bei der Leineweber GmbH – und das soll in Ihrer Firma keine Seltenheit sein! Welche Message steckt aus Ihrer Sicht hinter dieser Tatsache?

Ehrlich gesagt, kommt es mir manchmal auch komisch vor, dass ich seit meinem Abitur immer nur in einer Firma gewesen bin. Aber wir bei Brax leben tatsächlich diesen „Fordern & Fördern“-Ansatz. Der ist für uns existentiell, denn für unseren Standort ist es nicht immer leicht, geeignetes Personal zu finden. Wir schauen genau, welche Person an welcher Stelle am besten eingesetzt ist, wie man Talente fördert und intern aufbauen kann. Ich selbst bin sicherlich ein Beispiel dafür! In unserer HR-Abteilung ist ein großer Teil des Teams mit Personalentwicklung beschäftigt.

„Nur mit Leidenschaft, Information und gegenseitigem Vertrauen kann man digitale Transformation meistern.“

 

Wie hoch ist die Mitarbeiter-Fluktuation in Ihrem Unternehmen?

Die Mitarbeiterfluktuation in unserem Headoffice in Herford ist tatsächlich sehr gering, sie liegt bei drei Prozent. In den Läden sieht das sicherlich anders aus, dort ist sie höher, wie überall im Handel. Ich glaube es gibt nicht viele Läden, die über ein Jahr hinweg mit dem gleichen Team am Start sind.

 

Stellt sich bei einer so langen Betriebszugehörigkeit nicht auch die Gefahr der Betriebsblindheit ein?

In unserer Zeit ist es immens wichtig, Entwicklungen in der Branche und der Gesellschaft nicht zu verschlafen. Bis 2009 waren wir ausschließlich über den stationären Handel am Markt vertreten, seit 2009 haben wir den Online Shop, später kamen Marktplätze hinzu. Heute liegt der  Umsatzanteil über E-Commerce bereits bei ca. 10 Prozent. Um solch einen Change-Prozess umzusetzen, braucht es Impulse von außen - aber auch festes Vertrauen innerhalb eines Unternehmens – zwischen Management und Mitarbeiter. Ich glaube nicht, dass ich betriebsblind bin.

 

Woher holen Sie sich die Impulse für neue Wege?

Ich bin viel unterwegs, kenne die Sicht des stationären Handels, des E-Commerce, der Hersteller. Vor allem aber rede ich viel mit Leuten, frage, wie macht ihr das und warum und bin einfach neugierig auf neue Ideen und Denkweisen. Auch auf Konferenzen und besonders in den Gesprächen zwischen den Slots hole ich mir wichtige Impulse für mein Business.

 

In 30 Jahren haben sich die Anforderungen an Führung und Mitarbeiter stark verändert. Warum braucht es heute einen anderen Führungsstil als früher?

Die Führung von Mitarbeitern hat sich grundlegend verändert. Ging es vor 30 Jahren nur top-down, ist das Verhältnis zwischen Führung und Mitarbeitern heute kooperativ und auf Augenhöhe. Bei uns beispielsweise erfolgen Feedbackrunden stets in beide Richtungen. Und kein Mensch will heute mehr eine austauschbare Nummer in einem Betrieb sein und nur Anweisungen umsetzen. Mit solchen Mitarbeitern könnte man eine Herausforderung wie die Digitalisierung auch nicht stemmen. Nur mit Leidenschaft, Information und gegenseitigem Vertrauen kann man sie meistern. Besonders wichtig ist mir in diesem Zusammenhang die Information, denn wie man so schön sagt: Information ist der Sauerstoff der Motivation!

 

Inwiefern stellt die digitale Transformation dieses Vertrauen auf eine Probe?

Weil alles immer schneller geht! Mitarbeiter brauchen Sicherheit und so etwas wie ein Gefühl von Geborgenheit im Unternehmen. Nur dann sind sie auch bereit, neue Wege zu beschreiten, denn das ist immer ein Risiko. Es ist wichtig, dass Mitarbeiter der Führung vertrauen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Im Gegenzug muss die Führung dem Team vertrauen, diese richtig umzusetzen. Dabei ist es auch wichtig, Fehler zuzulassen. Denn wer keine Fehler machen darf, wird sich auch nicht in neue Themen stürzen.

 

„Wir sind ein Familienunternehmen. Vertrauen zwischen Familie und Mitarbeiter ist uns extrem wichtig, weil wir den Zusammenhang zwischen Geborgenheitsgefühl und Innovationskraft kennen.“

 

Wie sieht eine Arbeitsbeziehung aus, in der dieses Vertrauen gestört ist?

Dann haben Sie Mitarbeiter, die nur Dienst nach Vorschrift machen oder – noch schlimmer – innerlich schon gekündigt haben. Mit so einem Team schaffen Sie keinen Change-Prozess. Wir dagegen haben sehr viele Anstrengungen unternommen, um dauerhaft ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Uns ist klar, dass Generationen unterschiedlich ticken und unser Unternehmen muss für alle passen. Und wenn es nicht passt, muss man eben seine Unternehmenskultur neu erfinden. Wir haben dieses Ziel bisher erfolgreich gemeistert. Der Beweis: In der Textilwirtschaft Arbeitgeberstudie belegen wir im Bereich soziale Verantwortung Platz 1.

 

Was können Sie Unternehmen empfehlen, die - wie Sie - in der Peripherie angesiedelt sind? Welche Themen sind wichtig für neue und alte Mitarbeiter?

Ich bin überzeugt, dass jedes Unternehmen, egal wo es angesiedelt ist, mit Selbstvertrauen punktet. Es ist das Paket, das stimmen muss. Arbeitnehmer wollen heute ein spannendes Aufgabenfeld, eine gute Work-Life-Balance und eine angemessene Bezahlung. Zudem wollen ja nicht alle Menschen in der Stadt leben, denn das Land bietet ja auch Vorteile, vor allem wenn man langfristig bleiben möchte.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Freyberg!

 

Weiterführende Links:

Online-Shop von Brax

Corporate Site von Brax

 

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silhouette of virtual human on abstract technology 3d illustration , represent artificial technology.

Wie Künstliche Intelligenz uns Menschen tangiert

Künstliche Intelligenz (KI) gilt als eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Deutschland genießt in KI-Forschung international einen ausgezeichneten Ruf. Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken ist mit über 1.000 Mitarbeitern die größte wissenschaftliche KI-Einrichtung weltweit. Auf der AI4U-Konferenz sprach ich mit Prof. Andreas Dengel, DFKI Standortleiter in Kaiserslautern, über politische Reglementierung, gesellschaftliche Verantwortung und zukünftige Einsatzgebiete, wie zum Beispiel im Klima- und Katastrophenschutz.

Herr Prof. Dengel, welcher Grundsatz gilt bei der Entwicklung von KI-Systemen?

Es ist wichtig, KI immer zum Nutzen des Menschen und der Menschheit zu entwickeln und zu verwenden. So dürfen Kampfroboter genauso wenig eigenständig über Leben und Tod entscheiden dürfen, wie Chatbots ohne Einverständnis des Menschen Gespräche aufzeichnen und auswerten dürfen. Es geht also um eine menschenzentrierte Betrachtungsweise, die ich für sehr wichtig halte. Daraus resultiert auch, dass KI als kognitive Entlastung wie als intellektueller Leistungsverstärker angesehen werden sollte, als digitaler Assistent, der unsere Fähigkeiten ergänzt oder erweitert und uns nicht gleichberechtigt ist.

 Sollte die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz politisch reglementiert werden?

Auf jeden Fall, denn auch für KI und diejenigen, die diese verantwortlich entwickeln, gilt, dass unsere Gesetze eingehalten werden müssen. Sowohl die Chancen als auch Gefahren bedürfen einer politischen Reglementierung. Dabei sollten primär Fragen zu Menschenrechten, demokratischen Werten und ethischen Überlegungen im Mittelpunkt stehen, wie sie auch im April dieses Jahres als Teil eines Leitlinienkatalogs der EU veröffentlicht wurden. Besonders, um dem manipulativen Potenzial von KI entgegenzuwirken, brauchen wir Ethik-Leitsätze und Gesetze, bis hin zu einer erweiterten Strafverfolgung, die jedoch nicht Halt macht an den Grenzen von Deutschland oder der EU, sondern eine globale Anstrengung erfordert.

 

 „Künstliche Intelligenz sollte als digitaler Assistent gesehen werden, der unsere Fähigkeiten ergänzt oder erweitert und uns nicht gleichberechtigt ist.“

 

Was können wir tun, damit KI nicht für Zwecke eingesetzt wird, die wir ablehnen? Wie schaffen wir eine größere Transparenz darüber, wie KI entwickelt wird?

Transparenz ist ein wichtiges, vermutlich auch das offensichtlichste und eingängigste Ziel. Gleichberechtigt daneben stehen jedoch weitere Dimensionen mit großem Einfluss. Nur wenn wir alle Ebenen gleichermaßen in unseren zukünftigen Entwicklungen beachten, KI entsprechend politisch reglementieren und die relevanten Forschungsfelder vorantreiben, können wir sicherstellen, dass wir keine Systeme kreieren, welche für unerwünschte Zwecke verwendet werden. Die Leitlinien der EU fassen die wesentlichen Dimensionen zusammen, die berücksichtigt werden müssen auf dem Weg zu einer vertrauenswürdigen KI.

Können Sie die wichtigsten Leitlinien der EU kurz skizzieren?

Menschliches Handeln und Aufsicht muss Vorrang haben (1), KI Systeme müssen robust und sicher sein (2), die Privatsphäre und das Datenqualitätsmanagement muss gewährleistet sein (3), KI Systeme sollten vielfältig, nichtdiskriminierend und fair gestaltet werden (4), Gesellschaftliches und ökologisches Wohlergehen sind Ziele für die KI eingesetzt werden soll (5), Mechanismen werden geschaffen, die eine Rechenschaftspflicht für KI Systeme gewährleisten (6) sowie Transparenz (7), also die Rückverfolgbarkeit von KI Systemen, welche als siebte und letzte Dimension von der EU vorgeschlagen wird.

Wie kann eine Gesellschaft verhindern, dass KI entgegen unseren Wünschen gebaut bzw. genutzt wird?

Damit eine Gesellschaft mitreden kann, muss viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, denn nur wer mitreden kann, ist in der Lage eine „rote Linie“ zu ziehen. Dies gilt für die Gesellschaft im Allgemeinen, wie für die politischen Entscheidungsträger im Speziellen, denn Gesetze und Anwendungskodizes machen nur dann Sinn, wenn ich ihre Wirksamkeit und Grenzen bewerten kann.

Grundsätzlich gilt aber, dass im Prinzip jede Technologie letztendlich missbraucht oder zweckentfremdet werden kann, was nicht nur für die KI gilt. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Kreditkartenbetrug oder korrupte Finanzbuchungen – auch hier werden Technologien entgegen ihres ursprünglichen Sinnes für kriminelle Handlungen missbraucht. Das Gefahrenpotenzial einer Technologie macht sie nicht per se schlecht, man darf potenzielle negative Auswirkungen jedoch nicht ignorieren.

 

„Um dem manipulativen Potenzial von KI entgegenzuwirken, brauchen wir Ethik-Leitsätze und Gesetze bis hin zu einer erweiterten Strafverfolgung.“

 

Und wie kann man gegen die Gefahren vorgehen?

Einhalt kann man diesen möglichen Gefahren gebieten, indem man aus dem Bewusstsein über die Gefahren Schutzmechanismen entwickelt. Das bedeutet auch, dass es sich lohnt beispielsweise in die Erforschung der Erklärbarkeit von KI Systemen zu investieren, um weitere potentielle Risiken frühzeitig aufdecken zu können.

Auch meine Arbeitsgruppe am DFKI beschäftigt sich seit einigen Jahren mit den Themen Interpretierbarkeit und Erklärbarkeit, was dazu geführt hat, dass wir KI Systeme bereits heute in die Lage versetzen können, ihre Entscheidungen in natürlicher Sprache zu erklären. Das ist nur ein Beispiel für vielversprechende Entwicklungen und wichtige Schritte in Richtung Transparenz und um ein tieferes Verständnis zu generieren.

 

„Die KI bietet uns als globale Gesellschaft ein technologisches Fundament, um die vieldimensionalen Daten und ihre Zusammenhänge besser zu verstehen, Ereignisse und Entwicklungen vorherzusehen und präventive Maßnahmen rechtzeitig in die Wege zu leiten.“ Prof. Andreas Dengel, DFKI

 

Technologischer Fortschritt hält Einzug in unseren Alltag. Inwieweit werden KI-Systeme diesen in Zukunft beeinflussen?

Wenn wir uns anschauen, in wie viele Bereiche unseres täglichen Lebens KI bereits Einzug gefunden hat, können wir in etwa abschätzen, wie dieses zukünftig aussehen wird. Im Bereich Edge Computing und Anwendungen wie z. B. Smart Cities und Smart Automation kann ich mir ebenfalls deutliche Verbesserungen in absehbarer Zeit vorstellen.

 Es entsteht manchmal der Eindruck, dass KI nur entwickelt wird, um Verantwortlichkeiten auf Maschinen abzuschieben, aber nicht um echte Probleme zu lösen. Wie stehen Sie dazu?

Ich kann dem Kern Ihrer Frage nicht folgen, denn Einzelaussagen, wie etwa, dass an einem Unfall der Algorithmus schuld sei oder das Verhalten auf unzureichende Daten zurückzuführen ist, sind nicht repräsentativ für die KI. Ich billige eine Abschiebung von Verantwortlichkeit auf KI-Systeme auch nicht, denn die Algorithmen haben sich Menschen ausgedacht und Daten zum Training von KI-Systemen sind von Menschen ausgewählt.

 

„Eine verstärkte Anwendung von KI zu Klimaschutzzwecken, z. B. im Energiesektor ist denkbar, bspw. im Ressourcenmanagement oder in intelligenten Automatisierungen.“

 

Aber, und dies ist wichtig zu betonen, KI-Systeme behandeln bereits „echte Probleme“. Schon das Navigationssystem im Auto versucht allen Verkehrsteilnehmern gleichzeitig in hochkomplexen und dynamischen Verkehrsdatenräumen, die schönste, schnellste, kürzeste Route zum Ziel zu suchen. KI-Systeme, wie deepL übersetzen in Sekunden längere Texte in alle europäischen Sprachen.

KI-Systeme des DFKI werden z. B. zur Betrugserkennung oder zur automatischen Erkennung von Bildinhalten, in denen Kinder sexuell missbraucht werden, eingesetzt. Andere Systeme kommen im Bereich des Katastrophenmanagements zum Einsatz, wo Satellitenbilder z. B. bei Überflutungen analysiert werden, um Vorhersagen zu machen, wie sich die Fluten weiter ausbreiten werden und Rettungswege in welchem Zeitraum für die Einsatzkräfte noch zur Verfügung stehen. Das sind für mich schon „echte Probleme“.

D. h. KI-Systeme werden in Zukunft positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Welche sehen Sie da als realistisch an?

Meine Antwort knüpft zum Teil an Ihre vorangegangene Frage zu „echten Problemen“ an. Eine echte Herausforderung der wir uns nämlich zukünftig stellen müssen, ist der Klimawandel. Eine verstärkte Anwendung von KI zu Klimaschutzzwecken, z. B. im Energiesektor ist denkbar, bspw. im Ressourcenmanagement oder in intelligenten Automatisierungen. Positive Auswirkungen auf die Gesellschaft, die ich für realistisch halte und zukünftig sehe, liegen auch im Bereich Gesundheit, zur Unterstützung von alten, kranken oder behinderten Menschen.

Wie wird Künstliche Intelligenz in Zukunft die Arbeitswelt verändern?

Bezogen auf die Arbeitswelt sehe ich ebenfalls eine große Chance, denn durch den Einsatz von KI-Systemen können dem Menschen monotone Arbeiten und standardisierte Vorgänge abgenommen werden. Infolgedessen bleibt mehr Zeit für Aufgaben, in denen der Mensch seine im Vergleich zur Maschine anders vorhandene Problemlösungskompetenz anwenden kann.

Auch für Kreativität, kommunikative und soziale Tätigkeiten bleibt im besten Fall mehr Zeit. Wenn wir es schaffen die KI für uns einzusetzen, kann sie uns die Arbeit erleichtern und ist keinesfalls etwas, das als „Arbeitsplatzvernichter“ befürchtet werden muss. Man muss sich hier auch klarmachen, dass ein etwaiger Umbruch - so übrigens auch in allen vorangegangenen industriellen Revolutionen passiert - nicht plötzlich, sondern sukzessive erfolgt und somit auch Zeit bleibt, um z. B. in Weiterbildung, Um- oder Höherqualifizierung zu investieren.

Was werden KI-Systeme in drei Jahren besser können als heute?

Drei Jahre sind ein relativ limitierter Zeitrahmen, ich denke daher, dass man allgemein sagen kann, dass große Potentiale hin zu besseren KI-Systemen im Verständnis der Systeme liegen. Unser Ziel sollte also vornehmlich weiterhin sein, die sogenannten KI Black-Boxes „weißer zu machen“ und hier sind wir schon auf einem guten Weg.

 

„Es sich lohnt in die Erforschung der Erklärbarkeit von KI Systemen zu investieren, um weitere potenzielle Risiken frühzeitig aufdecken zu können.“

 

Und was sagen längerfristige Prognosen?

 Es gibt verschiedene Befragungen und Trendanalysen, die versuchen zu prognostizieren, welche Veränderungen in Zeiträumen von z. B. fünf oder zehn Jahren im Bereich KI voranschreiten werden. Häufig werden in solchen Studien das produzierende Gewerbe, die Industrie und auch KMU als prädestinierte Nutzer von KI identifiziert. Ein Beispiel ist die Qualitätskontrolle die mit KI assistiert werden kann und so wesentliche schneller als der Mensch ist. IBM präsentiert regelmäßig konkrete zu erwartende Technologietrends der kommenden fünf Jahre.

Auch hier finden sich Anwendungen z. B. im Ökologie- bzw. Umweltbereich in Form von intelligenten Sensoren, die Schadstoffbelastungen erkennen können oder Einsätze im Gesundheitsbereich wie Chips, die es ermöglichen Krankheiten früher zu erkennen, indem regelmäßig Körperflüssigkeiten auf Veränderungen untersucht werden. Dies könnte mit diesen Mini-Laboren sogar von zuhause aus geschehen. Ob diese speziell prognostizierten Anwendungen tatsächlich alle eintreten werden, wird man in den kommenden Jahren sehen, sicherlich werden sie aber zum Teil Einzug in unseren Alltag finden.

Was ist Ihr ganz persönliches Anliegen in Sachen Entwicklung von KI-Systemen?

Prof. Andreas Dengel, DFKI
Prof. Andreas Dengel ist Standortleiter am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern und wissenschaftlicher Direktor des Forschungsbereichs Smart Data & Knowledge Services am DFKI.

Es gibt viele große Probleme unserer Zeit, die die gesamte Menschheit betreffen, insbesondere die Lebensbedingungen und das Zusammenleben der kommenden Generationen. Die KI bietet uns als globale Gesellschaft ein technologisches Fundament, um die vieldimensionalen Daten und ihre Zusammenhänge besser zu verstehen, Ereignisse und Entwicklungen vorherzusehen und präventive Maßnahmen rechtzeitig in die Wege zu leiten, sei es in den Lebenswissenschaften, im Bereich der Klimaforschung oder bei gesellschaftlichen Phänomenen, die durch Social Media entstehen. Daher würde ich noch mehr kollektive Maßnahmen ganz Im Sinne der UN-Initiative „AI for good“ begrüßen.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch, Herr Prof. Dengel!

 

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Weiterführende Links

Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz

Konferenz für Künstliche Intelligenz AI4U

 


bild von Unternehmerin Und Verkaufsprofi Judith Williams

Judith Williams:
„Bequemlichkeit ist die Eintrittskarte zur Bedeutungslosigkeit.“

Judith Williams ist ein Star des Verkaufsfernsehens, erzielt dreistellige Millionenumsätze mit ihrer Luxuskosmetiklinie und ist Investorin bei der TV-Sendung „Die Höhle der Löwen“. Als ich die Unternehmerin beim #UdZ-Regionaltreffen bei Amazon im 24. Stock des Münchener Highlight Towers treffe, kann ich mir eine Vorstellung davon machen, warum sie alles zum Verkaufsschlager macht. Das positive Lebensgefühl und die Empathie, die sie versprüht, inspiriert jeden Anwesenden im Raum. Im Interview verrät sie mir dann ihr Erfolgsrezept und wie sich Verkaufsprinzipien von Teleshopping auf den digitalen Handel übertragen lassen.

In nur einer Dekade ist die Judith Williams GmbH zur erfolgreichsten Marke im europäischen Homeshopping geworden. Wie erklärst du dir im Rückblick diesen kometenhaften Aufstieg deines Start-Ups?

Um ganz ehrlich zu sein, die wichtigsten Eigenschaften, die man als Unternehmensgründer braucht, sind Demut, Fleiß sowie der Wille, immer wieder aufzustehen und Niederlagen als Chancen zu sehen. Weil ich nicht Betriebswirtschaft studiert hatte, musste ich alles von der Pike auf lernen, aber ich glaube, auch dies war ein Grundstein für den Erfolg. Es war mein ungebändigter Wille, die Arbeitswelt positiv zu beeinflussen. Denn Bequemlichkeit ist die Eintrittskarte zur Bedeutungslosigkeit.

 

"Es ist nicht das Produkt, das du verkaufst, sondern ein Bedürfnis, das du stillst." Judith Williams

 

Bist du auf deinem Weg auch an den Punkt des Zweifelns gekommen?

Ohja, da gab es einige schlaflose Nächste. Allein wenn ich an die Kreditvergabe zur Vorfinanzierung für Wachstumsprogramme meiner Kosmetiklinie denke. Ich hatte Termine bei Banken und wusste, wenn das nicht klappt, dann steht alles auf dem Spiel. Und da hatte ich nicht nur die Verantwortung für mich selbst, sondern auch für 50 Mitarbeiter.

Vera Vaubel und Judith Williams
changelog-Autorin Vera Vaubel trifft Judith Williams zum Interview im Highlight Tower in München.

Wie bist du damit umgegangen?

Dazu vielleicht eine Vorgeschichte: In meiner persönlichen Krise, da war ich Mitte Zwanzig, als ich aufgrund der Hormonbehandlung meines Tumors meine Stimme verlor und meine Karriere als Sängerin aufgeben musste, hat mich mein Vater eines gelehrt: Kein Selbstmitleid zulassen, Demut lässt sich lernen. Nutze Krisen dazu, dich persönlich weiter zu entwickeln. Diese Erfahrung hat mir auch als Unternehmerin sehr geholfen.

Die Marke lebt von deiner Person und deiner Gabe im Fernsehen zu verkaufen, du hast deine Brand auch ins klassische Retailgeschäft gebracht. Hast du jemals darüber nachgedacht, auch digitale Verkaufskanäle zu nutzen?

Online steht definitiv auf unserer Agenda. Wir haben da einiges vor, aber leider kann ich heute dazu noch nicht mehr verraten.

Glaubst du, dass sich die Verkaufsprinzipien von Homeshopping auch auf den Online-Handel übertragen lassen? Was können Online-Shops von dir lernen?

Ich denke, es ist die Sicht der Dinge. Es ist nicht das Produkt, das du verkaufst, sondern ein Bedürfnis, das du stillst. Und jeder, der etwas verkaufen will, muss sich die Frage stellen: Wie erfüllt mein Produkt die Träume meiner Kunden? Das erreichst du mit Storytelling. Nur mit Emotionalität bleibst du relevant. Das funktioniert im Teleshopping und ich bin überzeugt auch in jedem anderen Verkaufskanal, also auch im digitalen Handel.

Was rätst du den Kandidatinnen des Start-Up Programms „Unternehmerinnen der Zukunft“, bei dem du Schirmherrin bist?

Seid mutig. Investiert in euch selbst und reflektiert. Stellt euch die Fragen "Wer bin ich?", "Wo stehe ich?", "Wo will ich hin?". Vertraut eurem Instinkt. Eure Coaches geben euch professionelle Ratschläge, aber die Entscheidung, wo euer Weg und der eures Unternehmens hinführen, die trefft ihr immer selbst. Das Erfolgsrezept liegt in jedem einzelnen von uns.

 

„Mut ist Angst in Bewegung.“ Judith Williams

 

Du bist ein Rolemodel in Sachen Vereinbarkeit von Karriere und Familie. Was muss sich deiner Meinung nach in der Gesellschaft ändern, um den Aufstieg von Frauen ins Topmanagement zu erleichtern?

Die Erwartungshaltung, dass Frauen beruflich in eine Sackgasse geraten, wenn sie eine Familie gründen, ist obsolet. Wir müssen das alte Rollenverständnis aufbrechen, und da hat jeder seinen Beitrag zu leisten. Dazu müssen in der Familie die Ehemänner genauso viel beitragen wie die Schwiegermütter. Unternehmer müssen Eltern ermöglichen, Kinder in ihre Arbeitswelt zu integrieren. Das sind jetzt nur zwei Beispiele. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Denn wir können es uns heute in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten, auf Frauen in der Arbeitswelt – die ja meist gut ausgebildet und hochqualifiziert sind -  zu verzichten.

Du stehst selbst für Veränderungen ein und hast dich auf deinem Karriereweg schon oft einem Wandel unterzogen. Wie sehen deine Zukunftspläne aus?

Ich habe von so vielen Menschen gelernt und ich bin momentan an einem Punkt, wo ich mein Wissen gerne teilen und weitergeben möchte. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, Menschen und vor allem junge Frauen zu inspirieren und in eine positive Richtung bewegen.

Vielen Dank, liebe Judith, für den offenen Dialog!

 

Weiterführende Links:

Mehr über Judith Williams

Information über das Programm Unternehmerinnen der Zukunft

 

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Bild von Digitalem Visionär: Ryan Mullins

Interview Ryan Mullins:
Über das Verschwinden des Digitalen

Ryan Mullins ist Serial Entrepreneur, digitaler Vordenker und Visionär. Die letzten zwei Jahre hat der US-Amerikaner als Director of Future Trends bei Adidas digitale Zukunftstrends beobachtet und die Sportmarke hinsichtlich ihrer digitalen Strategie beraten. Alles, was Ryan tut, dreht sich um das, was er das Prometheus-Prinzip nennt: Werkzeuge und Technologien demokratisieren, um zu sehen, was Menschen erschaffen. Jetzt gründet er in den USA ein neues Unternehmen, das digitale Streetwear-Startup Aglet. Auf dem Ispo Digitize Summit sprach ich mit Ryan über das Verschwinden des Digitalen und die Rolle von Technologien. Und er verrät seine Learnings, die er Marken und Händlern mit auf dem Weg gibt.

Ryan, wie siehst du die Zukunft des Handels? Welche Rolle werden Brands spielen, welche Händler?

Ich sehe den Handel im Kontext einer wesentlichen Entwicklung: Das Verschwinden des Digitalen. Der stationäre Handel hat einen Fehler gemacht, als er iPads, Screens, magische Spiegel etc. in die Läden gestellt hat in der Hoffnung, der Kunde würde das wollen. Tatsächlich schaffen diese Geräte aber Hindernisse für das Markenerlebnis und die Kommunikation zwischen Kunde und Verkäufer. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zukunft immer weniger kommerzielle Transaktionen im Laden durchführen, das klassische Kaufen wird mehrheitlich online erfolgen. Dafür wird der stationäre Laden für den direkten Kontakt mit der Marke immer wichtiger. Hier findet das Testen von Produkten statt. Es wird mehr Direct-to-Consumer Handel geben und vor allem mehr Consumer-to-Consumer Handel.

 

"Was ich mit Verschwinden des Digitalen meine: Das Digitale wird für uns so selbstverständlich und omnipräsent werden wie es für uns heute die Elektrizität ist."

 

Was genau meinst du mit Consumer-to-Consumer?

Consumer-to-Consumer ist die Weiterentwicklung von eBay oder StockX, also Plattformen, wo Konsumenten an Konsumenten verkaufen. Wenn Produkte wie beispielsweise Sneaker mit den entsprechenden Chips ausgestattet sind, wird derjenige, der die Schuhe trägt, zum Verkäufer, einfach indem die Schuhe gescannt werden. Technologie wird jedem ermöglichen, zum Verkäufer zu werden. Nicht alle kommerziellen Transaktionen werden so ablaufen, aber wir werden hier eine signifikante Steigerung sehen.

Welche Rolle werden dann die Marken haben?

Marken stehen nicht für Produkte, sondern sie bieten den Kunden einen Raum an, wo Kunden Erfahrungen machen können, wo sie ihren Visionen nachgehen können, wo sie ihr Leben ändern können. Sport ist schon immer mit Orten assoziiert, wie z.B. Fußballplätzen, Fitnessstudios etc. In Zukunft wird es für Marken darauf ankommen, diese Orte mit der Marke zu verknüpfen oder selbst zu so einem Ort zu werden. Apple ist dafür ein gutes Beispiel: Wenn man in einen Apple Store geht, kann man dort natürlich auch Dinge kaufen, aber vor allem geht es darum, dort Produkte zu testen. Der Laden funktioniert wie ein Ort, an dem Kunden neue Erfahrungen machen.

Du sprichst über das “Verschwinden des Digitalen”. Was genau wird verschwinden?

Wie oft haben Sie heute schon über die Technologie nachgedacht, die es Ihnen erlaubt, bestimmte Dinge zu tun? Wahrscheinlich so gut wie gar nicht. Das ist eine evolutionäre Entwicklung: Dinge sind nur dann im Fokus der Aufmerksamkeit, solange sie neu sind. Das gilt für die neue Uhr, die neuen Sneaker genauso wie für Technologie. Jede große Technologie wird verschwinden, nicht in dem Sinne, dass es sie nicht mehr gibt, sondern sie wird einfach zu einem Teil unseres Lebens, ohne viel Aufmerksamkeit zu absorbieren. Das Digitale wird für uns so selbstverständlich und omnipräsent werden wie es für uns heute die Elektrizität ist.

 

"Es wird in Zukunft mehr Direct-to-Consumer Handel geben und vor allem mehr Consumer-to-Consumer Handel."

 

Welche Konsequenz hat diese Entwicklung für Marken und Händler?

Die Frage, die sich daraus ergibt, wird sein, wie man als Marke für diese Konsumenten Erlebnisse entwickeln kann? Die Antwort darauf kann nicht lauten, dass wir die Technologie in den Vordergrund stellen und auf VR-Brillen, noch mehr Screens, Magic Mirrors etc. bauen. Man braucht kein Hologramm im Store oder tanzende Außerirdische, um den Konsumenten zu bedienen. Wir müssen nach Anwendungen suchen, die für ihn Sinn machen. Das muss meiner Meinung nach überhaupt nichts super ausgefallenes sein. Die aktuellen Top-Brands für Kids, wie z.B. Supreme oder Balenciaga, sind nicht wegen ihrer Technik angesagt, ihre Attraktivität hat nichts mit Technologie zu tun. Die Magie entsteht allein im Auge des Konsumenten.

Wie kann man diese Magie herstellen- ohne technischen Schnickschnack?

Beispielsweise durch Strategien der Verknappung. Mit den digitalen Plattformen wurde alles überall und jederzeit verfügbar. Deshalb haben erfolgreiche Brands damit begonnen, ihre Produkte zu limitieren. Was ist ein Selfie? Das Festhalten eines ganz bestimmten, nicht wiederholbaren Moments. Diese Momente zu haben und mit anderen zu teilen verleiht heute Status. Genauso ist das mit Produkten. Sneaker sind ein Paradebeispiel für dieses Prinzip. Der Resell-Markt für Sneaker ist dreimal größer als der eigentliche Sneaker Markt! Es gibt Leute, die verkaufen ihre Sneaker schon weiter, bevor sie sie überhaupt bekommen haben. Die Marke spielt hier gar keine Rolle mehr, der Prozess verläuft allein zwischen Konsumenten.

Welche Bedeutung wird in diesem Zusammenhang Customizing  zukommen?

Customizing ist ein großartiges Tool um Läden zu einem besonderen Ort für die Konsumenten zu machen. Die Magie des Ladens entwickelt sich allein daraus, was der Kunde dort machen kann! Die eigene Kreativität und Vorstellungskraft wird zu einem Teil des Geschäfts. Und natürlich ist auch Customization mit dem Konzept der Limitierung verbunden. Viele Konsumenten nutzen diese Möglichkeit schon, aber es wird Zeit, dass diese Idee mithilfe von Machine Learning eine höhere Stufe erreicht. Zwei Probleme sind heute mit Customization verbunden: Selbst designen kostet Mühe und Zeit, und die wollen viele Leute nicht investieren. Ganz nach dem Bestseller „Don’t make me think“: Sobald der Konsument denken muss, geht er. Das zweite Problem: Viele Leute glauben nicht daran, dass sie selbst ein guter Designer sein können. Sobald wir aber soweit sind, über Algorithmen genau die Produkte entwickeln zu können, die dem Konsumenten gefallen, wird Customization zu einer komplett neuen Erfahrung.

 

"Innovationen entstehen durch ungewöhnliche Kombinationen."

 

Welche Rolle wird Geschwindigkeit spielen?

Die Geschwindigkeit, in der künftig Produkte auf den Markt gebracht werden können, spielt eine wesentliche Rolle – es ist kein Zufall, dass gerade die Fast Fashion in den letzten Jahren so stark gewachsen ist. Wir müssen schneller werden! Die ersten Produktbilder erreichen heute schon so früh die Konsumenten, dass sie schon gelangweilt sind, wenn das Produkt erhältlich ist. Die Supply Chain hierfür zu optimieren ist ein Teil des Puzzles. Auch neue Technologien werden hier eine zunehmend wichtige Rolle einnehmen. Nehmen wir Blockchains oder Kryptowährungen – viele Menschen denken, das sei nur ein Trend. Aber das ist ein Fehler. Blockchains werden Teil der Supply Chain werden, weil sie Transparenz ermöglichen und Nachhaltigkeit nachvollziehbar machen. Noch sind wir nicht soweit, aber viele Leute arbeiten daran.

Wie weit verändert die Digitalisierung den Sport? Wo siehst du weitere Erlösquellen?

Ich möchte es ein wenig umschreiben: Mich hat mal jemand gefragt, wie können die Marken heute wieder dahin zurückkehren, echte Sport Brands zu sein? Zu viele Menschen trügen Sportprodukte ohne wirklich Sport zu treiben, und das schade dem Image. Meiner Meinung nach ist das aber die falsche Frage. Wenn man zurück will, ist das der falsche Weg. Die richtige Frage lautet: Wie bringt man den Sport voran? Neue Möglichkeiten für Erlösquellen ergeben sich zum Beispiel durch den e-Sports Boom, auch wenn die heutige Diskussion vorherrscht, dass Video Games schlecht sind und kein Sport. Aber daraus lassen sich neue Umsätze entwickeln. Das Spiel Fortnite hat 2018 drei Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht, ein großer Teil davon durch virtuelle Produkte. Innovationen entstehen auch durch ungewöhnliche Kombinationen, beispielsweise die neue Pharell Williams Kollaboration mit Adidas Originals, wo Tennis und Basketball zusammen kommen. Jede Art von Sport wird heute ‚vermodet‘, bis hin zu den Sportlern selbst, bei denen nicht nur die Leistung interessiert, sondern oft noch mehr, was sie auf dem Weg ins Stadium anhaben. Auch wenn manches lächerlich erscheinen mag, man muss das System Sport als Ökosystem verstehen lernen und daraus Produkte entwickeln.

 

"Blockchains werden Teil der Supply Chain werden, weil sie Transparenz ermöglichen und Nachhaltigkeit nachvollziehbar machen."

 

Die Digitalisierung ist eine große Herausforderung für den Handel. Welche Tipps würdest du Händlern geben?

Ich würde folgenden Rat geben: Findet Wege, wie ihr eure Kunden stärken und befähigen könnt. Versucht sie besser zu verstehen, und ihr werdet feststellen: Was eure Kunden brauchen ist nicht das, was ihr erwartet hättet. Bleibt innovativ und wagt kontinuierlich Neues, um gegen das Überangebot zu bestehen - die Kunden sind super schnell gelangweilt. Hebt euch ab von eurer Konkurrenz und seid kreativ. Man muss, wie ich anfangs schon gesagt habe, eine gewisse Spannung erzeugen.

Du verlässt adidas und gründest gerade ein Start-up in den USA. Verrätst du uns, worum es dabei geht?

Mein neues Start-up heißt ‚Aglet‘, wie das Ende der Schnürsenkel bei einem Sneaker. Es ist eine digitale Sneaker Plattform, auf der man Sneaker designen, kaufen und verkaufen kann. Das Interesse an Sneaker Design ist riesig – man kann Sneaker Designer auf Instagram folgen, und immer mehr  Menschen wollen selbst designen. Bisher gab es aber keine Möglichkeit, selbst zum Designer zu werden und eigene Sneaker, Hoodies etc. zu entwerfen. Auf Aglet können User selbst kreativ werden, über Designs abstimmen und digitale Sneaker kaufen, beispielsweise für Games. Auch dort zählt Status. Aglet ist also ein Tool um Schuhe zu designen und ein Kanal zum Kaufen und Verkaufen. Aglet heißt auch die Währung. Es ist auf Blockchains aufgebaut. Es bietet außerdem die Möglichkeit, mit Brands zu interagieren. Brands könnten ihre Komponenten digitalisieren und zum Kauf anbieten, aus denen die Kids ganz eigene Designs erstellen. Ich bin sicher, dabei kämen völlig neue Produkte heraus und neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Kunde und Brand. Ich denke, so wird in Zukunft Design stattfinden: man designt digital, misst digital den Erfolg und produziert erst dann.

Soll es auch echte Produkte geben?

Am Ende ja. Wenn es mehr Speed Factories gibt und diese schnell und mit unterschiedlichen Materialien produzieren können. Aber noch ist es nicht so weit.

Viel Erfolg, Ryan, danke für das Gespräch!

 

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